Tianjin - Symbol für Chinas Wirtschaftskrise "All die schönen leeren Gebäude"
Tianjin gehört zu den modernsten und reichsten Städten Chinas. Doch ausgerechnet dort zeigt sich die Krise der Wirtschaft. Leerstehende Wolkenkratzer stehen symbolisch für die Probleme, mit denen das Land zu kämpfen hat.
Fahrt mit dem Auto durch Tianjin-Binhai. Eine beeindruckende Skyline - etwa 80 Kilometer östlich der Kernstadt von Tianjin. Die Millionenmetropole liegt im Norden Chinas, in der Nähe der Hauptstadt Peking. Hier steht Wolkenkratzer neben Wolkenkratzer, durchzogen von breiten Straßen.
Der Fahrer erzählt ein wenig: Dieses Hochhaus steht leer, das dort auch, hier haben sie aufgehört zu bauen. Er schätzt, dass hier cirka 70 Prozent der Häuser leer stehen. Überprüfen lässt sich die Aussage nicht. Bei genauerem Hinsehen fällt aber tatsächlich auf: Viele der Gebäude sind ungenutzt oder nicht zu Ende gebaut.
Das New York Chinas?
Michael Pettis ist Wirtschaftsprofessor an der Peking-Universität. Er zitiert eine verbreitete Legende. Vor zehn, 15 Jahren sei in Tianjin entschieden worden: Wir wollen das New York Chinas werden, das Finanzzentrum.
"Und sie haben sich gefragt: Was macht New York zum Finanzzentrum? Wolkenkratzer, das muss es sein! Und so haben sie so viel Bürofläche in Hochhäusern entlang des Flusses gebaut, wie in ganz Manhattan. Und der Gedanke dahinter war: Wenn die Gebäude erst mal da sind, dann werden wir wie New York. Am Ende hat es nicht funktioniert. Jetzt ist es eine Touristenattraktion. All die schönen leeren Gebäude."
Selbst chinesische Staatsmedien sprechen immer wieder vom Manhattan des Ostens. Im Unterschied zu dem New Yorker Stadtteil sieht man allerdings hier kaum Menschen auf der Straße.
Der Wolkenkratzer Goldin Finance 117 ist das dritthöchste Gebäude Chinas - und die höchste Bauruine der Welt.
597 Meter: Die höchste Bauruine der Welt
Am anderen Ende der Stadt, unweit des Tianjiner Südbahnhofs, steht eine Bauruine, die es sogar ins Guinness-Buch der Rekorde geschafft hat. Der Goldin Finance 117 - ein Wolkenkratzer, 128 Stockwerke, 597 Meter hoch. Das dritthöchste Gebäude Chinas, die höchste Bauruine der Welt.
Einsam ragt der Turm in die Höhe, alle anderen Gebäude in dem Bezirk sind deutlich niedriger. An großen Teilen der Fassade fehlt die Verkleidung. Der Wolkenkratzer wurde nie zu Ende gebaut. 2015 wurden die Bauarbeiten eingestellt, weil dem Investor das Geld ausging. Anwohner erzählen, sie hätten sich daran gewöhnt.
Die 25-jährige Chen Guozhen wohnt direkt neben der Bauruine in einem Mietshaus: "Manchmal schaue ich nach oben, echt riesig. Wenn ich nach Hause gehe, kann ich immer zuerst das Gebäude am Horizont suchen, dann finde ich auch mein Haus." In ihrer Heimat im Landesteil Anhui habe sie nie so ein hohes Gebäude gesehen. "Als ich zum ersten Mal nach Tianjin kam, sagte mein Schwiegervater, das sei das höchste Gebäude in der Stadt."
Der Wolkenkratzer Goldin Finance 117 im Westen der Stadt und Chinas Manhattan im Stadtteil Binhai, ganz im Osten Tianjins. Unterschiedliche Projekte, die dennoch symbolisch stehen für Chinas Wirtschafts- und Immobilienkrise. Überall im Land finden sich Bauruinen und leer stehende Gebäude, sogar ganze verlassene Geisterstädte.
Überschuldete Immobilienentwickler wie etwa Evergrande kämpfen in China ums Überleben.
Immobilienkrise belastet Wirtschaft
Überschuldete Immobilienentwickler wie Country Garden oder Evergrande kämpfen ums Überleben, in vielen Projekten wurde ein Baustopp verhängt. Käufer von Wohnungen bangen um ihre Investitionen, denn viele Immobilienentwickler arbeiten mit Vorschuss, gezahlt wird vor Baubeginn.
Nachdem die Immobilienpreise viele Jahre in die Höhe geschossen sind, sinken sie inzwischen vielerorts in China wieder, auch in der modernen Metropole Tianjin mit ihren mehr als zehn Millionen Einwohnern gehen die Preise für Wohnraum zurück. Der in der Krise steckende Immobiliensektor belastet die chinesische Wirtschaft sehr, hat er doch bislang rund ein Viertel des Bruttoinlandsprodukts ausgemacht.
Doch nicht nur Immobilienentwickler sind überschuldet, auch vielen Städten geht das Geld aus. Haben sie doch früher einen Großteil ihres Einkommens aus Landverkäufen an Immobilienkonzerne erwirtschaftet. Tianjin, immerhin eine der reichsten Metropolen Chinas, geriet dieses Jahr in die Schlagzeilen, weil die Stadt Busfahrern ihr Gehalt nicht rechtzeitig zahlen konnte.
Wirtschaft erholt sich nach Corona nur langsam
Während der fast drei Jahre andauernden strikten Null-Covid-Politik haben sich viele chinesische Städte noch weiter verschuldet. Sie mussten für PCR-Massentests bezahlen und Isolationseinrichtungen bauen.
Nachdem Chinas Covid-Politik scheiterte und die Maßnahmen im Dezember aufgehoben wurden, erholt sich die Wirtschaft langsamer als zunächst erhofft. Zwar deuten jüngste Daten darauf hin, dass sich die Wirtschaftslage in China etwas verbessert. Doch neben der Immobilienkrise gibt es noch weitere Unsicherheiten.
Jugendarbeitslosigkeit auf Rekordhoch
Mittagspause auf dem Campus der Technischen Universität Tianjin. Tausende Studierende strömen gleichzeitig aus den Hörsälen in Richtung Mensa. Viele junge Leute machen sich Sorgen um ihre Zukunft. Die Jugendarbeitslosigkeit in China ist derzeit auf einem Rekordhoch. Die 23-jährige Ling Yi studiert Computerwissenschaften im Master.
"Ich habe keinen so guten Abschluss in meinem Grundstudium gemacht", sagt Ling. "Deswegen dachte ich, es wird schwer, einen Job zu finden und hab mich entschieden, weiter zu studieren und dann mit dem Masterabschluss eine Arbeit zu suchen." Bis jetzt sei ihre Entscheidung anscheinend richtig. Der Jobmarkt sei wirklich nicht gut. Manche älteren Kommilitonen von Ling suchten gerade Arbeit: "Die Lage ist echt ernst."
Werden Daten zur Arbeitslosigkeit verheimlicht?
Im Juni waren nach offiziellen Angaben 21,3 Prozent der Menschen im Alter zwischen 16 und 24 Jahren ohne Job - die Dunkelziffer dürfte noch deutlich höher liegen. Seit Juli veröffentlicht die Regierung keine Zahlen zur Jugendarbeitslosigkeit mehr. Beobachter vermuten, dass Chinas Staats- und Parteiführung die Daten verheimlicht, weil sie politisch nicht ins Bild passen.
Doch nicht alle hier auf dem Campus machen sich Sorgen. Zhou Jiaxu macht einen Master in Schiff-Elektronik. Für ihn sei der Druck, einen Job zu finden, nicht so groß, da seine Familie wohlhabend sei, so der 21-Jährige: "Ob es schwierig ist, Arbeit zu finden, hängt auch von den persönlichen Fähigkeiten ab." Wenn man gut sei, könne man auch eine Arbeit finden, meint Zhou. "Obwohl unsere Uni nicht unter den besten ist, bei manchen Fächern können wir auch mit guten Universitäten mithalten."
Tianjin-Binhai: "Wenn die Gebäude erst mal da sind, dann werden wir wie New York. Am Ende hat es nicht funktioniert."
"Wenigstens haben wir überlebt"
Ein Café im historischen Stadtzentrum Tianjins. Das europäisch anmutende Gebäude stammt aus der Kolonialzeit aus dem frühen 20. Jahrhundert. Die italienische Konzession ist heute ein beliebtes Touristenziel. Doch so richtig belebt wirkt das Viertel nicht. Das Café ist fast leer. Lü Xuan betreibt den Laden, der abends zur Whiskey-Bar wird, mit zwei weiteren Geschäftspartnern. Nebenbei arbeitet er als Architekt.
In diesen Jahren sei die wirtschaftliche Situation nicht so gut, meint Lü, besonders der Immobilienmarkt stecke in der Krise. "Deshalb habe ich die Möglichkeit, neben meinem Job als Architekt diesen Laden zu betreiben." Während der drei Jahre Pandemie sei es gar nicht gut gelaufen, dieses Jahr etwas besser. "Aber wenigstens haben wir überlebt."
Viele Kunden sind nach der Pandemie verschwunden
2021 sei das schlimmste Jahr gewesen, erzählt Lü. Von 365 Tagen hätten sie nur 60 öffnen dürfen. Alle drei Geschäftsführer hätten geweint vor Verzweiflung. Jetzt dürfen sie wieder öffnen, doch Lü merkt, dass die Leute nach dem Ende von Null-Covid nicht mehr so viel Geld ausgeben.
"Nach der Öffnung gab es einen kurzen Aufschwung. Der Laden war voll, wir waren sehr beschäftigt. Aber dann ging es sofort wieder nach unten. Vor der Epidemie kauften viele Stammgäste eine ganze Flasche Whisky, ließen sie bei uns stehen und kamen immer wieder, um daraus zu trinken. Aber diese Kunden sind nach der Pandemie verschwunden.
Manche kommen jetzt wieder und trinken ein Glas, manchmal schenke ich ihnen noch eins. Aber dass sie eine ganze Flasche kaufen, wie vor der Pandemie, das gibt es nicht mehr."