Vorbild Estland? Im digitalen Musterland
Wer in Estland mit Behörden zu tun hat, muss praktisch nicht mehr aufs Amt. Der baltische Staat gilt als Modellfall, wie Verwaltung ihre Dienste digital anbieten kann. Doch die Infrastuktur kommt in die Jahre.
Holger Kiik ist Dozent an der Universität Tallinn, und er ist glücklich: Am 16. Februar heiratet er seine Freundin. Den Antrag für die Hochzeit haben sie natürlich digital ausgefüllt. "Beim Eheantrag kann ich wählen, wen ich heiraten möchte", erzählt Kiik lachend. Allerdings müsse die andere Person das Ganze am Ende natürlich digital gegenzeichnen. Nur für die finale Unterschrift müssen die beiden aufs Amt. Bei einer eventuellen Scheidung später wäre das auch wieder so: Den ganzen Rest an Behörden-Kontakt erledigt Kiik im Internet.
Digitaler Ausweis seit mehr als 20 Jahren Pflicht
Das ist seit Jahren Alltag in Estland. Nach der Unabhängigkeit von der damaligen Sowjetunion stand das Land vor einer grünen Wiese und musste die gesamte Verwaltung neu denken: Schlank, kostengünstig, digital - das war die Devise. "Ganz grundsätzlich ist diese Infrastruktur extrem wichtig", erzählt Florian Marcus. Er kommt ursprünglich aus Deutschland und arbeitet seit Jahren als Digitalisierungsberater im Land.
Holger Kiik, Dozent an der Uni Tallinn, erledigt so gut wie alle Behördenangelegenheiten digital. Nur das Ja-Wort will er seiner Braut analog geben.
"Wir haben alle einen elektronischen Personalausweis, der ist verpflichtend in Estland. Den gibt es seit 2001". Hinzu komme der Daten-Austausch, der zwischen den Behörden ermöglicht werde. "Auf dieser ganzen Grundlage sind inzwischen 99,9 Prozent aller staatlichen Dienstleistungen online", sagt der Berater. Ein Haus kaufen, das Haustier anmelden, bei Wahlen die Stimme abgeben: All das passiert im Netz.
Erste "Alterserscheinungen"
Eine Frage, die Marcus regelmäßig beantworten muss: Was ist mit dem Datenschutz - wenn selbst die Angaben zur eigenen Gesundheit digital verfügbar sind? "Nicht jede Behörde, nicht jeder Beamte kann auf jeden Datensatz zugreifen", erklärt er. "Das Steueramt bekommt keinen Einblick in meine Krankendaten."
Ganz besonders wichtig: "Ich sehe in meinem Portal, wann welche Behörde auf welchen meiner Datensätze zugreift." So habe es in Estland in der Vergangenheit schon Fälle gegeben, in denen Ärzte oder Polizisten dagegen verstoßen und daraufhin ihre Lizenzen und ihre Jobs deshalb verloren hätten.
Die ersten digitalen Dienstleistungen gab es 1999; die Systeme kommen teilweise in die Jahre. An manchen Stellen fehlen Updates - hier müsste der Staat mehr investieren, sagen Marcus und auch andere Digitalisierungsexperten in Estland.
Florian Marcus stammt ursprünglich aus Deutschland, lebt aber schon seit Jahren in Estland. Er arbeitet dort als Digitalisierungsberater.
In Sachen Cyber-Sicherheit Weltklasse
Ansonsten kann das kleine baltische Land nicht nur mit einer digitalen Verwaltung glänzen, sondern auch mit einer enormen Kompetenz in Sachen Cyber-Sicherheit: Laut einer Studie gilt das Land in diesem Bereich als drittbestes der Welt. Es ist auch das Zuhause des "Cyber Security Center" der NATO.
Vor Angriffen geschützt ist Estland deshalb nicht, und seit Ausbruch des russischen Kriegs gegen die Ukraine nehmen sie stark zu - bislang allerdings ohne nennenswerte Auswirkungen, so die zuständige Behörde.
"Deutsche Bürokratie ineffeizient"
Digitalisierungsexperte Marcus hat eine Weile für die estnische Regierung gearbeitet und unter anderem deutschen Delegationen das Prinzip "Digitaler Staat" nähergebracht. Wenn er die Deutschen fragt, warum sie Digitalisierung wichtig finden, hätten diese oft - meist nach zehn Sekunden Verzögerung - geantwortet: "Digitalisierung ist die Zukunft".
Für Marcus bedeutete diese Antwort, dass in Deutschland immer noch kein übermäßiger Leidensdruck herrsche, bei dem die Regierung sage, "das ärgert uns und das müssen wir ändern". "Der Staat hat zuviel Geld, als dass es ihm schaden würde, als dass er merken würde, wie ineffizient und ineffektiv die deutsche Bürokratie ist", schließt Marcus aus dieser Haltung.
Digtalisierung hat Grenzen
Für den frisch Verlobten und bald verheirateten Holger Kiik gibt es allerdings auch Grenzen der Digitalisierung. Für einen der schönsten Tage im Leben - die Hochzeit - auch mal auf ein Amt gehen zu müssen, das stört ihn nicht: "Wenn die endgültige Unterschrift auch digital wäre, dann hätte man ein komisches Gefühl, einfach im Internet geklickt zu haben. Das wäre merkwürdig."