Skyline von Buenos Aires
reportage

Wirtschaftspolitik in Argentinien Champagner-Laune nur bei manchen

Stand: 10.12.2024 06:43 Uhr

Javier Milei hat durch Deregulierung für einen Immobilien-Boom gesorgt. Gleichzeitig wächst die Zahl der Obdachlosen. Was der Kurs des "Anarcho-Kapitalisten" für Argentiniens Wohnungsmarkt bedeutet.

Routiniert entfernt Santiago Magnin das Gummiband von einem Stapel Geldscheine. Dann steckt er sie in die kleine Geldzählmaschine, die zum Mobiliar jedes Büros seiner Immobilienagentur gehört und nickt zufrieden. Im Kühlschrank wartet ein Fläschchen Champagner. "Jeder, der eine Wohnung verkauft, bekommt einen kleinen Schampus, dafür haben wir hier extra einen Kühlschrank", sagt er.

Aus dem sechsten Stock blickt man über das schicke Palermo-Viertel von Buenos Aires, beste Lage. Und Santiagos Agentur hat gerade fünf Wohnungen vermittelt. Solche Geschäfte werden in Argentinien traditionell nicht in der schwindsüchtigen Landeswährung Peso, sondern im stabileren US-Dollar abgeschlossen, vorbei am Bankensystem. "Das hier erlebst du nirgendwo sonst auf der Welt, aber hier in Argentinien wird alles in bar und in US-Dollar bezahlt." Selbst Wohnungen.

Wohnungsmarkt im Aufschwung

Es ist nur eins von vielen verrückten Dingen, die sich nach Jahren mit dreistelligen Inflationsraten und Währungsverfall in Argentiniens Krisenwirtschaft etabliert haben. Neu ist dagegen, dass das Wohnungsgeschäft - nach Jahren der Flaute - wieder brummt, sagt der Immobilienmakler. Das sei Präsident Javier Milei zu verdanken - und dessen Deregulierung des Wohnungsmarktes. "Seit er das Mietgesetz aufgehoben hat, ist das Angebot wieder gestiegen", so der Immobilienmakler.

Das Problem mit dem Gesetz sei gewesen, dass man Preise nicht festlegen konnte und es Mindestlaufzeiten für Verträge gab. "Da viele Eigentümer in Argentinien nicht auf Mieten angewiesen sind und Immobilien eher als Investition halten, haben sie sich entschlossen, gar nicht zu vermieten", sagt Santiago Magnin: "Da sie jetzt wieder ihre eigenen Bedingungen festlegen und Mieten auch in US-Dollar verlangen können, gibt es wieder mehr Wohnungen auf dem Markt. Das hatte zur Folge, dass die Mieten real im Preis gesunken sind."

Weniger Geld vom Staat

Größeres Angebot, kleinere Preise: So jedenfalls besagen es die Zahlen der landesweit größten Immobilienagentur Zonaprop. Das schien zu beweisen, was der libertäre Ökonom Milei schon immer predigte: je weniger Staat, desto besser. Der Mark reguliere sich am besten selbst.

Seit seinem Amtsantritt schloss Milei Behörden und Ministerien, strich Subventionen und Gratis-Medikamente für Senioren und legte öffentliche Bauaufträge auf Eis. Die Schocktherapie mit Kettensäge schien zu wirken: Erstmals seit Jahren gab es einen Haushaltsüberschuss, die Inflation sank auf rund drei Prozent - pro Monat zwar, für Argentinien trotzdem eine Sensation.

Armut hat deutlich zugenommen

Das ist allerdings nur ein Teil der Wahrheit: Die andere Realität sieht man unter Brücken, auf Pappkartons, in kleinen Plastikzelten auf den Bürgersteigen. Die Zahl der Obdachlosen sei brutal angestiegen, sagt Horacio Avila, der einst selbst auf der Straße lebte. Heute leitet er eine Kooperative, die hilft Obdachlosen hilft, sich wieder ins Arbeitsleben einzugliedern.

"Die Wahrheit ist, dass die Inflation vorher schrecklich war, aber seit diese Regierung im Amt ist, ist die Armut explodiert. Ich habe noch nie so viele Leute auf der Straße und im Müll wühlen sehen", sagt Avila. Ganze Familien seien darunter, alleinerziehende Frauen mit Kindern, Alte. "Es gibt keine Jobs mehr, weil die Fabriken und kleinen Geschäfte dicht machen, und wir bekommen null Unterstützung mehr. Es ist schlimmer als in der Krise nach dem Wirtschaftscrash 2001, weil der Staat völlig abwesend ist."

Es ist die Kehrseite der Schocktherapie: Die Wirtschaft ist um mehr als drei Prozent eingebrochen, die Armut um zwölf Prozent gestiegen. Betroffen ist mehr als jeder zweite Argentinier, besonders Kinder und Rentner.

Proteste gegen den Sparkurs

Dagegen formiert sich Widerstand: An der Straßenecke gegenüber des imposanten Nationalkongresses von Buenos Aires wird zum Protest gegen die Sparpolitik von Milei aufgerufen. Die Demonstrierenden sind in erster Linie Rentner. Umgerechnet beträgt ihre monatliche Pension rund 300 Euro.

"Das ist ein krimineller Sparkurs, den diese Regierung durchführt, und zwar auf dem Rücke der einfachen Menschen, der Rentner, der Arbeiter", sagt Mario Paraveccino. 43 seiner 70 Jahre hat er für die Stadtregierung von Buenos Aires gearbeitet. "300.000 Pesos Rente bekommen wir, davon kann niemand leben, wir müssen uns entscheiden, ob wir essen oder unsere Medikamente kaufen."

"In was für einer Welt leben meine Kinder und Enkel?"

Liliana Pazos gehört ebenfalls zur Gruppe. Sie ist 69 Jahre alt, die einstige Lehrerin betreut heute HIV-Patienten, um finanziell überhaupt bis ans Monatsende zu kommen. Oder Lokführer Felipe Carline, den die Polizei beim letzten Protest mit Tränengas und Tritten zu Boden brachte. "Wir protestieren hier auch für unsere Kinder", sagt Mario. "Ich habe eine Tochter, die prekär beschäftigt ist. Ohne Vertrag, ohne Urlaubsanspruch, ohne Sozialversicherung. Sie musste zurück zu mir ziehen, weil sie sich die Miete nicht mehr leisten kann."

Als Vater frage man sich dann: "In was für einer Welt leben meine Kinder und Enkel? Die Wahrheit ist doch, wir haben nicht einmal mehr das Recht, friedlich zu sterben."

Mietpreise laut offizieller Statistik gestiegen

Auch was den Wohnungsmarkt angeht, gibt es noch andere Zahlen. Der Mieterschutzbund, der sich auf offizielle Zahlen der Statistikbehörde stützt, sagt: Die Mietpreise sind im Vergleich zur Inflation nicht gefallen, sondern gestiegen. Gefallen ist dagegen die Zahl der Eigentümer und Mieter, heute leben mehr Menschen in prekären Verhältnissen. Und das heißt oft: in Armenvierteln oder besetzten Häusern.

Der Markt sei sehr konzentriert, sagt auch der Immobilienmakler Santiago Magnin aus Palermo. Und es sei eine sehr kleine Gruppe von Menschen, die sich eine formale Wohnung leisten könne. Gerade sei zusätzlich viel Dollar-Bargeld ins Land gekommen, das Argentinier zuvor im Ausland gelagert hatten - und für das Milei nun eine Steuer-Amnestie erließ.

Ob das Experiment von Milei dauerhaft Erfolg habe und irgendwann auch einer breiten Schicht der Bevölkerung zugutekomme - das zu sagen sei noch zu früh. "Ich hoffe, dass das Experiment diesmal funktioniert. Argentiniens Geschichte sagt uns, dass wir im ständigen Auf- und Ab pendeln, von der Ekstase wieder in die Agonie stürzen", sagt Magnin. "Wenn ich mit Investoren spreche, sind viele neugierig, aber die wenigsten investieren. Alle warten ab, ob es diesmal eine Ausnahme der Regel gibt."

Anne Herrberg, SWR, tagesschau, 09.12.2024 14:25 Uhr