Neue Erkenntnisse über Ur- und Frühzeit Muss die Steinzeitgeschichte umgeschrieben werden?
In Sibirien wurden Spuren einer 8.000 Jahre alten Festung nachgewiesen. Ein sensationeller Fund, denn das könnte bedeuten, dass das Leben steinzeitlicher Gesellschaften ganz anders aussah als bisher angenommen.
Nach gängiger Lehrmeinung lebten Jäger-Sammler-Gruppen in der Steinzeit nomadisch, bis die Landwirtschaft sie sesshaft machte. Die älteste befestigte Verteidigungsanlage mit Siedlungscharakter (Promontory Fort) der Welt in Sibirien, die vor etwa 8.000 Jahren von Jägern und Sammlern errichtet wurde, könnte möglicherweise für eine Neubewertung steinzeitlicher Gesellschaften sorgen.
Die Gesellschaft in der Steinzeit in neuem Licht
Jäger und Sammler verbarrikadieren sich hinter Festungspalisaden - bis vor kurzem war dies in der Welt der Archäologie ein Widerspruch. Ebenso überraschend der Ort der Fundstätte: Nicht am Tigris in Mesopotamien, wo man den Beginn komplexer Gesellschaften eigentlich verortet. Sondern am Fluss Amnja in der sibirischen Taiga: Der größte Nadelwald der Erde ist bis heute kaum besiedelt, auch deshalb, weil der nährstoffarme Boden nicht für Ackerbau geeignet ist.
Fundstätte mit Sensationscharakter
Die Funde in der Taiga Westsibiriens sind aus mehreren Gründen sensationell. Die Forschungsergebnisse des deutsch-russischen Archäologen-Teams zeigen, dass die Bewohner vor 8.000 Jahren bereits komplexe Verteidigungsanlagen um ihre Siedlungen errichteten. Damit widerlegen sie die Annahme, befestigte Siedlungen mit monumentaler Architektur seien mit der Entstehung bäuerlicher Gesellschaften verbunden.
Die leitende Archäologin, Henny Piezonka von der Freien Universität Berlin, sieht diese verfestigte Erzählung über die Entwicklungsstufen menschlicher Gesellschaften in der Forschungsgemeinschaft als Problem. "Unsere Erkenntnisse torpedieren dieses Narrativ. Wir zeigen, dass Jäger-Sammler-Gesellschaften sozial und ökonomisch sehr komplex gewesen sein können. Und zwar so komplex, dass sie substanzielle Festungen gebaut haben."
Die Gegend um den Fluss Amnya ist kaum besiedelt.
Fischfang, Jagd und kunstvolle Töpferwaren
Die Bewohner Westsibiriens fischten im Fluss Amnja, jagten mit Knochen- und Steinspeeren und nutzten kunstvoll verzierte Töpferwaren zur Konservierung von kalorienreichem Fischöl und Fleisch. Die prähistorischen Menschen führten einen hoch entwickelten Lebensstil, der auf den reichhaltigen Ressourcen der Taiga basierte.
Dank des dichten Gewässernetzes war Fisch saisonal massenhaft vorhanden. Im Wald konnten Elche, Rentiere und Auerhähne erbeutet werden. Diese Ressourcen boten Jäger- und Sammlergruppen eine sichere, berechenbare Grundlage für ihr Überleben. Durch Vorratswirtschaft konnten sie auch in Zeiten der Knappheit von den saisonalen Überschüssen profitieren.
Warum Festungsanlagen in der sibirischen Taiga?
Die befestigte Verteidigungsanlage mit Siedlungscharakter am Fluss Amnja in der westsibirischen Taiga ist die älteste ihrer Art in der Welt. Warum diese steinzeitlichen Gesellschaften schon vor 8.000 Jahren solche fortschrittlichen Verteidigungsanlagen entwickelten, ist unklar. Der aktuelle Kenntnisstand der Forschung bietet vier mögliche Szenarien zur Entstehung der Festungen:
Innovationen und Überschüsse: Der Innovationsgeist der Taiga-Gesellschaft könnte zur Anhäufung von Überschüssen geführt haben. Neue Fang-, Verarbeitungs- und Bevorratungstechnologien wie etwa Gefäßkeramik sorgten für Wohlstand. Die wirtschaftliche Struktur und soziale Ungleichheit schürten Konflikte und machten eine Befestigung der Siedlung notwendig.
Einwanderung: Eingewanderte Menschen aus den südlichen Steppengebieten könnten das Wissen um die Keramikproduktion und die Befestigungstechniken mitgebracht haben. Durch Errichten von befestigten Posten als Schlüsselstellen könnten sich diese Gruppen das dünn besiedelte Land im Norden angeeignet haben.
Die Wissenschaft bewertet die Funde in Sibirien als sensationell.
Kommunikationsnetzwerke: Die Festungen könnten als Knotenpunkte in regionalen Kommunikationsnetzwerken gedient haben. Diese Siedlungen waren möglicherweise Orte des Handels und ritueller Versammlungen und damit ein beliebtes Ziel für Plünderungen und gewaltsame Überfälle.
Klimaveränderungen: Die Entstehung der Festungen in Westsibirien könnte mit einem globalen Klimaereignis in Zusammenhang stehen. "Es gibt fast genau zu der Zeit einen Klimaeinbruch, etwa 50 bis 100 Jahre vor der Amnja-Siedlung. Das sogenannte 8.2 Event ist also eine kurze Kältephase von 150 Jahren, die vor 8.200 Jahren einsetzt. Möglicherweise hat das dazu geführt, dass die Menschen plötzlich territorial werden und ihre Siedlungen verteidigen müssen", sagt die Berliner Forscherin Piezonka.
Vor 8.200 Jahren setzte eine kurze Kälteperiode ein.
Viele Fragen bleiben offen
Das globale Klimaereignis wäre aktuell der beste Anhaltpunkt, um zu erforschen, wieso der Festungsbau vor 8.000 Jahren in Sibirien begann. Henny Piezonka betont, dass die Zusammenhänge mit den Klimaveränderungen geklärt werden müssen. "Das Grundproblem ist, dass es aus der Region fast keine ausgewerteten Klimaarchive gibt. Gemeinsam mit unseren russischen Kolleginnen hätten wir genau das die nächsten Jahre erforscht, wenn der russische Angriffskrieg Krieg auf die Ukraine nicht passiert wäre."
"8.000 Jahre Konfliktlandschaft"
Befestigte Siedlungen um die Zeit 6.000 v. Chr. sind ein einmaliges Phänomen. Später gab es in dieser Region der Taiga immer wieder Festungen. Die Siedlung Amnja markiert den Beginn einer Ära der Festungen. Interessanterweise sieht es auf der europäischen Seite der Taiga anders aus. Für Piezonka ist das eines der großen Rätsel um die Fundstätte.
"Was ich sehr überraschend finde und mir überhaupt nicht erklären kann: Warum in Westsibirien um 6.000 v. Chr. diese Festungen auftauchen und dann die gesamte Zeit bis in die Neuzeit immer wieder Siedlungen befestigt werden", sagt Piezonka. "Während auf der anderen Seite des Urals, im europäischen Teil Russlands - wo Landschaft und Ressourcen fast identisch sind - da gibt es keine einzige." Die ältesten Festungen westlich des Ural tauchen erst in der Eisenzeit vor etwa 2.000 Jahren auf.
Die Forschung hofft, das Rätsel in der sibirischen Taiga ergründen zu können.
Feldforschung für bestätigende Ergebnisse liegt auf Eis
Zur Klärung der vielen offenen Fragen ist weitere Forschungsarbeit nötig. Die politische Situation mit Russland lässt dies aktuell nicht zu. Die Forscherinnen aus Deutschland und Russland hoffen, in Zukunft gemeinsam weiter forschen zu können, um die Rätsel der steinzeitlichen Festung in der sibirischen Taiga zu ergründen.