50 Jahre Naturschutzgebiete "Das Wattenmeer hat globale Bedeutung"
Vor 50 Jahren wurden im Wattenmeer erste Naturschutzgebiete eingerichtet, Grundstein für den heutigen Nationalpark. Warum das Wattenmeer so wichtig ist, erklärt der Leiter des Nationalparks Niedersächsisches Wattenmeer, Peter Südbeck.
tagesschau.de: Was ist aus Ihrer Sicht so wertvoll am Wattenmeer?
Peter Südbeck: Es ist ein einzigartiger Lebensraum, den es in der Form, Qualität, Größe und Ausdehnung nur hier bei uns vor der Tür und in den Niederlanden und Dänemark gibt, aber nirgendwo anders. Wattgebiete selbst gibt es auch in anderen Kontinenten. Aber wir haben das größte zusammenhängende und durch unsere Inselketten gekennzeichnete Watt. Und das Spannende liegt wirklich im Wattboden selbst. Man kann bei uns auf dem Meeresboden spazieren gehen und wirklich erleben, wie das Leben anfängt, wie das Leben eine Nahrungskette gründet in einer unendlichen Fülle, Vielfalt und Form.
Peter Südbeck ist seit 2005 Leiter der Nationalpark- und UNESCO-Biosphärenreservatsverwaltung Niedersächsisches Wattenmeer. Der Nationalpark umfasst annähernd die gesamte niedersächsische Wattenmeerküste und nimmt große Teile der Ostfriesischen Inseln mit auf.
"Fantastische Anpassung an den Lebensraum"
Es ist ja gar nicht leicht, in einem Wattenmeer zu überleben, wo zweimal am Tag das Wasser kommt und auch wieder geht und man sich eigentlich entscheiden muss, Fisch oder eben bodenlebendes Lebewesen zu sein. Aber die vielen Nährstoffe, die in das Wattenmeer gebracht werden, werden von Mikroalgen von Bakterien aufgenommen und am Ende in Würmer, Muscheln und Schnecken sozusagen eingebaut.
Und dann sind sie Nahrung für Seehund, für Kegelrobbe für die Fische und für die Zugvögel des Wattenmeeres. Und vielleicht lässt sich an den Zugvögeln am besten diese großräumige, großartige globale Bedeutung ermessen, weil die Vögel, die hier diese Wattwürmer zu sich nehmen in einem Lebensraum von 10.000 Kilometern leben - in die eine Richtung 5.000 Kilometer nach Afrika, wo sie jetzt gerade sind und demnächst zu uns kommen und dann 5.000 Kilometer bis in die Arktis weiterziehen, wo sie brüten.
Diese Verbundenheit und diese ökologische Abhängigkeit haben wir wirklich nur hier. Und das ist eine ganz fantastische, wirklich im besten Sinne des Wortes fantastische Anpassung dieses Lebensraums.
Umweltdebatten der 70er und 80er
tagesschau.de: Vor langer Zeit, also bevor es Nationalpark wurde und bevor es Naturschutzgebiete wurden, war das Wattenmeer bedroht: die Tiere waren bedroht, es gab eine hohe Umweltverschmutzung. Warum war es so wichtig, dass damals dieses Naturschutzgebiet ausgerufen wurde?
Südbeck: Nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Wiederaufbau in Deutschland gab es eine Phase der industriellen Nutzung auf allen Ebenen und natürlich auch an der Küste. Es ist weltweit noch der Fall, dass die Küstenregionen intensivst genutzt werden. Und das hatte seinerzeit viel damit zu tun, dass auch Verschmutzung, industrielle Entwicklung mit vielen Problemen verbunden waren und natürlich auch die Eindeichung hier.
Viele große Bereiche sind über etwa 1.000 Jahre abgedeicht worden, und die Menschen sagen: "Das Wattenmeer wird immer kleiner, und es ist durch diese generelle wirtschaftliche Entwicklung gefährdet, sodass wir einen Gegenpol setzen müssen." In den 70er Jahren hatten wir natürlich auch weitere Umweltdebatten in unserer Gesellschaft auszuhalten, die dann in der Atomkraftbewegung und der Antibewegung kulminierten. Das war die Zeit, wo dann auch tatsächlich die Nationalparks Mitte der 80er Jahre erfolgreich umgesetzt wurden. Aber das basiert natürlich auf der Dekade zuvor, wo diese Diskussionen und Debatten in der Gesellschaft geführt wurden.
"Man konnte sehen, dass die Fische krank waren"
tagesschau.de: In welchem Zustand war damals, als diese Naturschutzgebiete eingerichtet wurden, das Wattenmeer?
Südbeck: Vielleicht ist der Begriff, der diesen Raum charakterisiert - aus der Gefährdungsperspektive - die Blumenkohlkrankheit der Fische. Man konnte quasi sehen, dass die Fische, die hier lebten, krank wurden. Und das macht es noch mal ganz deutlich, wie einfach das Watt und das Ökosystem Meer bei uns hier direkt vor der Küste unter Druck stand. Aber auch natürlich die Eindeichungen: Das heißt, wir haben der Natur diesen Raum, diesen Übergangsraum oder Retentionsraum tatsächlich weggenommen.
Und da gab es diese Gegenbewegung zu sagen, wir haben in den Flussmündungsbereichen industrielle Ansiedlungen. Wir brauchen aber für die Menschen, die hier wohnen und für die, die hier Urlaub machen, auch einen intakten Lebensraum. Und das war dann die Begründung auch für den Naturschutz hier.
Vielfältige Herausforderungen auch heute
tagesschau.de: Wie hat sich das Wattenmeer dann, nachdem es diese Naturschutzgebiete gab, erholt?
Südbeck: Der große Punkt war die Einrichtung der Nationalparks, gerade in Deutschland. Wir haben seit über 50 Jahren eine internationale Zusammenarbeit. Das ist ziemlich vorbildlich. Heute gibt es auch ein Weltnaturerbegebiet über die Grenzen hinweg. Und dieser einheitliche Raum wurde dann in den Naturschutzinitiativen über den Wattenmeer-Plan, über ein gemeinsames Monitoring und über viele andere Initiativen auf den Weg gebracht.
Vor Ort gibt es Aktivitäten und Maßnahmen zum Beispiel der Gewässerreinhaltung, der Renaturierung von Lebensräumen, des Miteinanders im Küstenschutz, also wie man das Überleben der Menschen hier, aber eben auch das Überleben der Natur hier gemeinschaftlich sichert.
Heute würde ich sagen, da ist eine Welle von Schutzmaßnahmen in die Region getragen worden. Aber wir dürfen uns nicht zufrieden geben mit dem, was ist, sondern wir sagen nach wie vor: "Wir haben einen wertvollen Lebensraum mit dem Prädikat 'Weltnaturerbe', und wir müssen daran arbeiten, dass das angesichts der vielfältigen Herausforderungen, die wir zu stemmen haben, auch so bleibt."
Das Wattenmeer ist einzigartiger Lebensraum für viele Tierarten.
Tourismus ist Partner für den Erhalt des Wattenmeers
tagesschau.de: Eine Herausforderung für die gesamte Küste ist der Tourismus. Die Leute wollen ans Meer, die möchten gerne das Wattenmeer sehen, die möchten sich da erholen. Wie kann man Tourismus und Naturschutz vereinbaren?
Südbeck: Das ist eine große Herausforderung für die Menschen, die hier leben, aber auch für die, die hier Urlaub machen. Wir haben ein Zonierungssystem eingerichtet, das heißt, dass sensible Bereiche für die Natur von den Menschen in sensiblen Phasen möglichst auch gemieden und beschützt werden. Und dann haben wir aber Bereiche und das ist ganz wichtig, wo die Menschen natürlich auch Urlaub verbringen und die Natur erleben können.
Und der zweite wichtige Punkt, der zeichnet uns generell am Wattenmeer aus: Wir haben ganz, ganz viele Angebote, die Menschen mitzunehmen in die Natur, weil wir wissen, dass die Leute, die hier Urlaub machen, diese intakte Natur erhalten wollen und sie auch kennenlernen wollen. Und da bieten wir ganz viele Möglichkeiten in unseren Nationalparkeinrichtungen und -zentren auf vielen zertifizierten Nationalparkführungen, wie zum Beispiel zu den Zugvogeltagen, wo wir diese Besonderheit den Menschen wirklich näher bringen.
Und bin ich davon überzeugt, dass ein Gast, der zu uns kommt und die Besonderheiten des Wattenmeeres kennt, sehr viel unternehmen wird, dass er nicht dazu beiträgt, hier eine weitere Gefährdung reinzubringen. Da haben wir ganz viel Unterstützung. Die Tourismuswirtschaft ist heute ein ganz starker Partner, auch für den Erhalt des Wattenmeer.
"Naturschutz ist Zukunftssicherung für alle"
tagesschau.de: Wenn Sie in die Zukunft schauen für das Wattenmeer, was würden Sie sich wünschen?
Südbeck: Die Herausforderung ist natürlich mittelfristig und langfristig der Klimawandel. Wir müssen im Klimaschutz Erfolge haben, und wir müssen das Wattenmeer vorbereiten, dem steigenden Meeresspiegel, der Temperaturerhöhung und weiteren Faktoren auch begegnen zu können.
Wir haben eine intensive Herausforderung, was die Umsetzung der Energiewende bei uns angeht. Zum Beispiel die Anbindung der Offshore-Windparks, die wir alle aus diesen Klimaschutzgründen unterstützen. Gleichwohl ist es eine Schwierigkeit, damit umzugehen, wenn der Strom ans Festland durch den Nationalpark will.
Und wir müssen natürlich auch im Bereich der Schiffssicherheit weiterarbeiten und diese extrem hoch halten. Ein Schiffsunfall ist die Katastrophe schlechthin. Wir sind mehrfach knapp daran vorbeigeschrammt.
Dies alles zusammen geht nur, wenn wir die Region, die Menschen, die hier leben, aber auch die, die hierher kommen, um Urlaub zu machen, als Partner für mehr Naturschutz am Wattenmeer sensibilisieren. Denn das ist die Herausforderung: Wir müssen auch die Naturseite als Zukunftssicherung für uns alle begreifen. Und ich glaube, gerade hier ist es sichtbar, wie wichtig das ist.
Das Gespräch führte Anja Martini, Wissenschaftsredakteurin tagesschau. Es wurde für die schriftliche Fassung gekürzt und redigiert.