Menschen protestieren in Tel Aviv für die Freilassung der Geiseln
interview

Rückkehr israelischer Geiseln "Ein Jahr Todesangst, das hallt im Körper wider"

Stand: 19.01.2025 12:04 Uhr

Durch einen Deal Israels mit der Terrororganisation Hamas sollen ab heute mehrere Geiseln aus Gaza freikommen. Traumaexpertin Shapira-Berman erklärt, was sie durchgemacht haben dürften und was ihre Behandlung so schwierig macht.

tagesschau.de: Diese Menschen waren jetzt mehr als ein Jahr in Gefangenschaft, nachdem sie am 7. Oktober 2023 in den Gazastreifen verschleppt wurden. Was glauben Sie, wie es ihnen geht?

Ofrit Shapira-Berman: Wir erwarten, dass sie in einem viel schlechteren Zustand sein werden als jene, die im vergangenen Jahr freigekommen sind. Es hängt davon ab, was sie in Gefangenschaft durchlebt haben. Aber wir wissen, dass sie alle psychisch und körperlich geschädigt wurden.

tagesschau.de: Wie gehen Sie mit diesen Menschen um?

Shapira-Berman: Ich denke, wir sollten sie behandeln wie Neugeborene auf der Intensivstation. Wir müssen sehr behutsam mit ihnen sein: sie engmaschig überwachen und beschützen vor jeder Art externer Einmischung. Vollständig ihre Privatsphäre sicherstellen. Das war für die bisher Freigelassenen nicht der Fall. Wir sollten uns daran erinnern, dass diese Geiseln nicht uns gehören. Sie gehören nur sich selbst und ihren Familien. Für sie wird die Rückkehr ein heiliger Moment sein, der nur ihnen gewidmet ist und den wir ihnen lassen sollten.

Ofrit Shapira
Zur Person
Ofrit Shapira-Berman arbeitet als Traumatherapeutin in Israel. Die Psychoanalytikerin begleitet auch freigelassene Geiseln und Überlebende des Massakers vom 7.Oktober 2023.

tagesschau.de: Im November 2023 sind bei einem ersten Abkommen etwa einhundert von insgesamt 250 Geiseln freigekommen. Einige davon begleiten Sie seither. Was lässt sich aus der Arbeit mit ihnen für die Situation jetzt lernen?

Shapira-Berman: Es waren in den ersten Tagen zu viele Menschen involviert. Und alles war sehr öffentlich. Ich persönlich bin sehr wütend auf die Ärzte, die viele Informationen an die Medien gegeben haben. Natürlich ohne Namen. Aber anhand der Details war es sehr leicht, die Betroffenen zu identifizieren oder über die Identität zu fantasieren. Es gab Menschen, die den Geiseln später auf der Straße sehr private Fragen gestellt haben - Fragen, die sie nicht einmal engsten Freunden oder Familienmitgliedern stellen würden. Das ist für mich unverzeihlich. Ich würde sogar so weit gehen und sagen, dass das eine weitere Art des Missbrauchs ist.

Angst außerhalb der Vorstellungskraft

tagesschau.de: Was wissen wir über das, was die Geiseln in Gefangenschaft erlitten haben?

Shapira-Berman: Von denen, die bereits zurück sind, wissen wir, dass sie alle psychischen Missbrauch erfahren haben. Man hat ihnen wieder und wieder erzählt, dass niemand sie zurückhaben will. Dass niemand für sie kämpft. Dass Israel zerstört wurde und die Terroristen Aschkelon und sogar Tel Aviv erobert haben. Dazu kamen dann die Bombardierungen (durch die israelische Armee, Anmerkung der Redaktion). Es ist außerhalb unserer Vorstellungskraft, was es bedeutet, mehr als ein Jahr Todesangst zu durchleiden. Das hallt im Körper in jeder Zelle wider.

Der physische Missbrauch ist ebenfalls sehr klar. Viele wurden angeschossen, geschlagen, ausgehungert, festgebunden. Was den sexuellen Missbrauch anbelangt, überlasse ich es der Vorstellung der Menschen. Ich weiß, dass jeder an das Schlimmste denkt. Ich bitte aber darum, diese Gedanken loszulassen - im Interesse der Betroffenen. Niemand, Frau oder Mann, sollte sich ein Leben lang damit gebrandmarkt fühlen, dass er oder sie vergewaltigt wurde.

Eine freigelassene Geisel wird im Sheba Medical Center in Ramat Gan von Angehörigen umarmt. (Archivbild vom 1.12.23)

"Sie gehören nur sich selbst und ihren Familien": Wiedersehen einer freigelassenen Geiseln mit Angehörigen im November 2023

tagesschau.de: Sie sprechen von einem Widerhall des Missbrauchs im Körper. Wie macht der sich bemerkbar?

Shapira-Berman: Wir müssen Menschen erwarten, die komplett in sich gekehrt sind und physisch sehr schwach, aber auch sehr alarmiert. Sie können sehr leicht aufgeschreckt werden. Wir müssen bedenken, dass sie vielleicht desorientiert sind oder sich von einem Extrem ins andere bewegen. Menschen, die gar nicht aufhören zu reden und andere, die ganz still sind. Die sehr emotional sind oder völlig emotionslos. Wir wissen von den früheren Geiseln, dass es Zeit braucht, bis die tieferen Schichten des Traumas offenbar werden. Aber wir sollten uns zunächst um das Hier und Jetzt sorgen. Fühlen sie sich jetzt geborgen? Fühlen sie sich jetzt sicher? Das ist wichtig. Alles andere kann warten.

Es wird vage, wer gut und wer böse ist

tagesschau.de: Bezüglich der Geiseln ist immer wieder von einem komplexen Trauma die Rede. Was ist damit gemeint und was bedeutet es für die Behandlung?

Shapira-Berman: Wir haben es mit traumatischen Erfahrungen in einer langen Zeitspanne zu tun. Dazu sind die Betroffenen vom Täter abhängig. Die Komplikationen, wenn der Täter auch die Person ist, von der man abhängig ist, sind sehr tiefreichend und nicht leicht zu behandeln. Das Kernproblem ist, dass Sie sich mit dem Aggressor identifizieren. Sie sind darauf angewiesen, dass er Sie mag, um sich selbst zu schützen. Die Geiseln verstehen sehr schnell, dass sie tun müssen, was immer ihnen gesagt wird. Sie müssen zu den Tätern eine Beziehung aufbauen, damit sie nicht verletzt werden.

Es wird dadurch aber auch sehr vage, wer gut und wer böse ist. Die Person, die dich festhält, entscheidet auch, ob sie dich nicht schlägt oder dir ein größeres Stück Brot zu essen gibt. Das macht ihn zu einer guten Person. Das israelische Militär bombardiert Gaza und dein Leben ist auch wegen der Bomben in Gefahr. Außerdem war der Staat Israel nicht in Eile, die Geiseln freizubekommen. Also wer ist gut und wer böse? Das ist psychologisch eine sehr schwierige Situation. Ebenso wie es für Opfer schwierig ist, sich einzugestehen, dass es auch Momente der Dankbarkeit gab.

tagesschau.de: Zum Beispiel?

Shapira-Berman: Wenn Sie das größere Stück Brot bekommen. Oder wenn der Täter Ihr Leben rettet, während er eine andere Geisel sterben lässt. Das sind alles Geschichten, die passiert sind. Es gab Geiseln an Orten, die bombardiert wurden, und die Hamas-Terroristen haben eine Geisel gerettet und die andere nicht. Da sind auch viele Schuldgefühle.

tagesschau.de: Werden die Betroffenen das Erlebte irgendwann hinter sich lassen können?

Shapira-Berman: Ich glaube nicht, dass wir Menschen jemals etwas hinter uns lassen. Aber ich bin hoffnungsvoll, dass sie weiterleben werden. Das heißt für mich, dass sie wieder lieben werden und das Leben genießen können. Der Schmerz und das Trauma werden sie ihr ganzes Leben begleiten. Aber ein volles Leben schließt auch Schmerz mit ein, für jeden von uns. Natürlich wird das Trauma manchmal herausbrechen in Momenten, die unerwartet sind. Aber ich hoffe, dass sie mit ausreichend Fürsorge und guter Therapie in der Lage sind weiterzumachen. Vor allem die jüngeren.

Eine Narbe, die niemals verheilt

tagesschau.de: Von 98 Entführten, die noch in Gaza sind, sollen nun zunächst 33 über sechs Wochen verteilt freikommen. Wie es danach weitergeht, ist noch nicht klar.

Shapira-Berman: Die Familien der Geiseln kämpfen einen Kampf, den niemand sollte führen müssen. Ich erwarte von künftigen israelischen Regierungen, dass niemals wieder jemand kämpfen muss für die Rückkehr eines Liebsten, der entführt wurde. Es sollte selbstverständlich sein, dass die Regierung alles tut, um ihre Leute freizubekommen. Aber der Schaden ist bereits angerichtet. Ich fürchte, einige der Geiseln werden nie zu uns zurückkehren und nie gefunden werden. Das ist eine Narbe, die niemals heilen wird für Israels Gesellschaft.

Eine Wand mit Foto der israelischen Geiseln

"Einige werden nie zurückkehren": Plakate der Entführten in Tel Aviv

tagesschau.de: Viele Familien haben jetzt mehr als ein Jahr um ihre Angehörigen gebangt, sind wieder und wieder zu Protesten auf die Straßen gegangen. Wie können auch sie unterstützt werden?

Shapira-Berman: Aus professioneller Sicht empfehle ich auch ihnen therapeutische Begleitung. Worum ich Israels Gesellschaft bitte, ist die Familien zu unterstützen, aber sie nicht zu ersticken. Eine Mutter sagte mir, sie fühle sich wie eine Mesusa: das Kästchen am Türrahmen bei uns, das man küsst. Fremde würden sie auf der Straße umarmen und küssen, und sie könne es nicht mehr aushalten. Andere brauchen genau das. Wir müssen sehr vorsichtig sein und ihnen auch ihre Autonomie lassen.

Auch die Familien sind gespalten

tagesschau.de: Israels Gesellschaft ist angesichts des Deals gespalten. Viele wollen ein Abkommen zur Freilassung der Geiseln um jeden Preis. Andere sagen, man dürfe einer Terrororganisation wie der Hamas nicht so viele Zugeständnisse machen. Was macht das mit den Familien?

Shapira-Berman: Auch die Familien selbst sind in diesem Punkt gespalten. Manche sind gegen den jetzigen Deal, weil nicht alle Geiseln auf der Liste sind (derer, die freikommen, Anmerkung der Redaktion). Andere unterstützen noch immer die Regierung oder einige ihrer Ansichten: etwa, dass das wichtigste Ziel die Zerschlagung der Hamas ist und nicht notwendigerweise die Freilassung der Geiseln. Es ist nicht leicht. Ich denke, dass die Politiker, die gegen den Deal sind, politischen Kannibalismus betreiben. Der Fakt, dass jemand ein Menschenleben opfern kann für eine Idee… Ich persönlich werde ihnen das nie verzeihen.

tagesschau.de: Von einer Überlebenden des Massakers von 7. Oktober ist zuletzt bekanntgeworden, dass sie ein Jahr danach Suizid beging. Die Familie hat der Regierung schwere Vorwürfe gemacht, dass es nicht genug Unterstützung für Menschen wie sie gebe.

Shapira-Berman: Ich weiß nicht, ob es keine Fälle von Suiziden geben würde, wenn die Regierung mehr Unterstützung gegeben hätte. So furchtbar das klingt: Menschen nehmen sich das Leben. Und bei Menschen, die so etwas Schlimmes durchgemacht haben, ist es wahrscheinlicher - besonders, wenn sie nicht behandelt werden.

Die israelische Regierung bevorzugt es, eine Menge Geld in Angelegenheiten zu stecken, die für die Mehrheit der Israelis unwichtig sind. Sie geben zum Beispiel Offizieren in der Regierung Geld für Tradition, für Religion, für die Siedlungen. Aber sie geben nicht den gleichen Betrag für die Behandlung der Menschen, für deren Trauma sie mitverantwortlich sind. Das ist eine weitere Sünde, für die sie hoffentlich zur Rechenschaft gezogen werden. Von uns, wenn nicht von der Geschichte.

Das Gespräch führte Anne Armbrecht, Tel Aviv.

Hilfe bei Suizid-Gedanken
Sollten Sie selbst von Selbsttötungsgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. Bei der anonymen Telefonseelsorge finden Sie rund um die Uhr Ansprechpartner.

Telefonnummern der Telefonseelsorge: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 www.telefonseelsorge.de

Telefonberatung für Kinder und Jugendliche: 116 111 - www.nummergegenkummer.de

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete tagesschau24 am 19. Januar 2025 um 08:00 Uhr.