Türkisches Erdbebengebiet Wahlkampf unter Extrembedingungen
Hunderttausende haben nach dem Erdbeben vor drei Monaten die Stadt Adiyaman verlassen. Zwischen Trümmern kämpfen die Parteien nun darum, dass sie für die Wahl am Sonntag zurückkommen - und ihnen ihre Stimme geben.
In der Parteizentrale der oppositionellen CHP in der Stadt Adiyaman im Südosten der Türkei geht es zu wie im Taubenschlag. Wahlkampfhelfer Hüseyin Bulus spricht am Telefon mit einem Erdbebenopfer. Er lebe jetzt in Ankara und habe sich eigens ein Busticket gekauft, um für die Wahlen zurückzukommen, erzählt er Bulus.
Neben Bulus am Schreibtisch sitzt sein Parteikollege Deniz Balibay und erklärt: "Wir versuchen, unseren eigenen Wählern zu ermöglichen, dass sie anreisen können. Das ist eine ziemliche Herausforderung. Es heißt, dass etwa 300.000 Menschen Adiyaman verlassen haben." Wie vielen sie die Anreise werden ermöglichen können, wisse er nicht. "Aber wir werden alles geben."
Der kurdische Schriftsteller Mehmet Öncü ist selbst gekommen, das erste Mal seit dem Erdbeben. "Ich habe natürlich gewusst, dass ich keine wiederaufgebaute Stadt vorfinden würde, dass ich all diese Ruinen und Trümmer sehen würde", sagt er. Aber er liebe die Stadt und wolle sich hier wieder ein Leben aufbauen. Einen Grundstein dafür will der 60-Jährige mit seiner Stimme bei den Wahlen legen.
Die CHP-Wahlkampfhelfer Hüseyin Bulus (links) und Deniz Balibay versuchen vielen Menschen für die Wahl die Rückreise nach Adiyaman zu ermöglichen.
Vor fünf Jahren noch 70 Prozent für Erdogan
In Bulus‘ provisorisches Büro haben sich inzwischen fünf Männer gequetscht; das eigentliche CHP-Parteigebäude ist seit dem Erdbeben nicht mehr nutzbar. Sie wollen sich als Wahlbeobachter melden und am Wahltag aufpassen, dass alles mit rechten Dingen zugeht.
Hüseyin Coban hat erst am Vortag eine parteiinterne Schulung zum Wahlbeobachter bekommen und sagt, er und andere Aktivisten würden schon "ab halb sieben morgens dabei sein, wenn’s losgeht, wenn die Umschläge gezählt werden. Stimmt die Zahl überein mit den Wählerzahlen? Läuft an der Wahlurne alles korrekt, kommen auch alle Stimmzettel in die richtigen Säcke? Passt alles mit den Siegeln?"
Bei den Wahlen vor fünf Jahren hat Präsident Recip Tayyip Erdogan in Adiyaman knapp 70 Prozent der Stimmen bekommen. Aber diesmal werde es anders, glaubt Bulus: "Wir sind aufgeregt. Denn es sind nur noch ein paar Tage, bis diese unmenschliche Regierung verschwunden ist. Und wir sind bereit, sie diesmal zu schlagen."
Mustafa Alkayis von der AKP ist nicht besorgt, dass hundertausende Menschen Adiyaman verlassen haben. Die Menschen wüssten, was er für die Stadt tue, so Alkayis.
Viel Anerkennung für AKP-Kandidaten
Zur gleichen Zeit arbeitet sich Mustafa Alkayis im weißen Hemd und Anzugshose durch ein Viertel, in dem sich eine Autowerkstatt an die andere reiht. Der Parlaments-Kandidat von Erdogans Regierungspartei AKP schüttelt unzählige Hände, fragt wie es geht.
Die Arbeiter klopfen ihm anerkennend auf die Schulter, umarmen ihn. Nur einer mit ölverschmierten Händen schaut lediglich von einem Motorraum auf und hält Distanz. Halb im Spaß, halb ernst wirft er dem AKP-Kandidaten vor, sich nur jetzt vor der Wahl blicken zu lassen, dann aber in den nächsten fünf Jahren gewiss nicht mehr. Die anderen Männer aus Alikayis‘ Tross versuchen, den Mechaniker zu beruhigen.
Es ist kein leichter Wahlkampf unter dem Eindruck des Erdbebens. Dass er manche Wähler, die erst kurz vor den Wahlen nach Adiyaman zurückkommen, nicht erreicht, sieht der AKP-Kandidat allerdings wenig problematisch. Er mache hier schon lange Politik und sei präsent: "Ich war bei unzähligen Beerdigungen und Hochzeiten hier. Vielleicht sind einige nach Istanbul gegangen. Aber die halten ja Kontakt hierhin, zu ihrem Bruder, ihrem Vater, ihrer Mutter." Und so bekämen sie auch mit, was er für Adiyaman nach dem Erdbeben tue und dann als Parlamentsabgeordneter tun wolle.
Ein anstrengender Wahlkampf
Bei Bulus in der CHP-Parteizentrale klingt schon wieder das Telefon. In einem Haus in seiner Nachbarschaft seien Leute gemeldet, die da gar nicht wohnen würden, erzählt ihm jemand. Der Anrufer wittert Wahlbetrug. Bulus macht sich Notizen. Er wirkt erschöpft - und der Tod vieler Freunde durch das Erdbeben mache ihm weiter zu schaffen. Doch ausruhen könne er sich nicht, sagt er.
So mobilisieren die Wahlkämpfer ihre letzten Kräfte für einen Sieg bei den Wahlen. An eine Niederlage will keine der beiden Seiten denken.