Südukraine Schwere Überschwemmungen nach Dammbruch
Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms kommt es zu schweren Überschwemmungen: Hunderte Häuser sind überflutet, in der Stadt Nowa Kachowka wurde der Notstand ausgerufen. Kanzler Scholz sprach von einer "neuen Dimension" des Kriegs.
In dem von Russland teils besetzten Gebiet Cherson gibt es nach dem Bruch des wichtigen Kachowka-Staudamms schwere Überschwemmungen. In der direkt am Staudamm liegenden Stadt Nowa Kachowka riefen die russischen Besatzer den Notstand aus. Das Wasser sei bereits um zwölf Meter angestiegen, sagte der von Russland eingesetzte Bürgermeister Wladimir Leontjew im russischen Staatsfernsehen. "Die Stadt ist überflutet."
Auf der russisch besetzten Seite des Flusses Dnipro seien insgesamt 600 Häuser in drei Ortschaften von den schweren Überschwemmungen betroffen, so Leontjew. Er räumte ein, dass es auch zu Problemen bei der Wasserversorgung auf der annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim kommen könnte. Diese wird mit Wasser aus dem Kachowka-Stausee beliefert.
Auf Internet-Videos war zu sehen, wie große Wassermassen aus der Mauer strömten. Nach ukrainischen Angaben sind in der "kritischen Zone" am Staudamm etwa 16.000 Menschen zuhause. Ministerpräsident Denys Schmyhal sprach von einer Überschwemmungsgefahr für bis zu 80 Ortschaften. Die Zerstörung werde zu einer Umweltkatastrophe führen. Das Weltdatenzentrum für Geoinformatik und nachhaltige Entwicklung erklärte, die Wassermassen würden erst nach etwa fünf bis sieben Tagen abfließen.
Ukraine: 150 Tonnen Maschinenöl im Dnipro
Nach Angaben der ukrainischen Führung gelangten mindestens 150 Tonnen Maschinenöl in den Fluss Dnipro. 300 weitere Tonnen Öl drohten noch auszulaufen, hieß es am Rande einer Sitzung des nationalen Sicherheitsrats. Der Gouverneur des Verwaltungsgebiete Cherson, Olexander Prokudin, berichtete von acht ganz oder teilweise überfluteten Ortschaften. Luftaufnahmen aus der von der Ukraine kontrollierten Gebietshauptstadt Cherson zeigten, dass im flussnahen Stadtteil Korabel viele Häuser unter Wasser stehen.
Der Betreiber des Wasserkraftwerks Ukrhydroenerho teilte mit, die Anlage sei vollkommen zerstört und könne nicht repariert werden. Das ukrainische Militär begann auf der in Flussrichtung rechten Seite des Dnipro - wo auch die von den Ukrainern befreite Gebietshauptstadt Cherson liegt - mit Evakuierungen. Russland kontrolliert das linke Ufer des Flusses im Osten, die Ukraine das rechte Ufer im Westen.
Für das Atomkraftwerk Saporischschja droht nach Angaben der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) keine unmittelbare Gefahr. Ein Sprecher des russischen Atomkonzerns Rosenergoatom sagte der Agentur Interfax ebenfalls, das AKW am Dnipro sei nicht betroffen.
Gegenseitige Schuldzuweisungen
Der Staudamm war in der Nacht zerstört worden. Kiew und Moskau beschuldigten sich gegenseitig, für die Sprengung verantwortlich zu sein. Die Ukraine warf russischen Invasionstruppen vor, die Staumauer gesprengt zu haben. Russland führte die Zerstörung auf ukrainischen Beschuss zurück. Die Angaben beider Seiten ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj machte "russische Terroristen" für die Sprengung des Damms verantwortlich. Das Außenministerium forderte eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates. Dort müsse der "russische Terrorangriff" beraten werden. Das Ministerium verlangte zudem weitere Sanktionen gegen Russland, die insbesondere die russische Raketenindustrie und den Atombereich treffen sollten.
Der zerstörte Staudamm liegt etwa 80 Kilometer nordöstlich von Cherson. Schraffiert dargestellt sind von Russland besetzte Gebiete.
Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak schrieb auf Twitter, Russland habe offensichtlich das Ziel, unüberwindbare Hindernisse für die geplante ukrainische Großoffensive zu schaffen. Dies sei der Versuch, das Ende des Krieges hinauszuzögern und ein vorsätzliches Verbrechen. Podoljak sprach zudem von einer globalen Umweltkatastrophe. "In den nächsten Stunden werden Tausende Tiere getötet und Ökosysteme zerstört werden", sagte er.
Russland wies die Vorwürfe zurück und beschuldigte die Ukraine. "Wir erklären offiziell, dass es sich hier eindeutig um eine vorsätzliche Sabotage der ukrainischen Seite handelt, die auf Befehl (...) des Kiewer Regimes geplant und ausgeführt wurde", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow.
Scholz: "Neue Dimension" des Kriegs
Bundeskanzler Olaf Scholz nannte die Zerstörung des Kachowka-Staudamms eine "neue Dimension" des Kriegs. Die Beschädigung des Damms sei etwas, "das zu der Art und Weise passt, wie Putin diesen Krieg führt", sagte er beim "Europaforum" des WDR. Es sei eine Entwicklung, "die wir mit Sorgfalt und mit Sorge betrachten".
Eine eindeutige Schuldzuweisung an die Adresse Russlands vermied der Kanzler - allerdings wies er auf Anzeichen für eine russische Verantwortung hin. Russland habe "jetzt viele Rückschläge erleben müssen", sagte Scholz. Russland habe "daraus immer den Schluss gezogen, mit noch gesteigerter Aggression gegen die Ukraine vorzugehen".
Die Ereignisse um den Staudamm seien etwas, "das sich einreiht in viele, viele der Verbrechen, die wir in der Ukraine gesehen haben, die von russischen Soldaten ausgegangen sind". Russland betreibe eine "Kriegsführung, die immer auch zivile Ziele - Städte, Dörfer, Krankenhäuser, Schulen, Infrastrukturen - angegriffen hat, was mit einer militärischen Kriegsführung ja erstmal gar nicht verbunden wäre".
Außenministerin Annalena Baerbock machte Russland für die Überflutungen verantwortlich. "Für diese menschengemachte Umweltkatastrophe gibt es nur einen Verantwortlichen: der verbrecherische Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine", sagte die Grünen-Politikerin. "Mit dem Kachowka-Damm wird ein ziviler Staudamm in Nähe eines Kernkraftwerks als Kriegswaffe missbraucht und das Leben der Menschen in der Umgebung in höchste Gefahr gebracht."
Stoltenberg: "Ungeheuerliche Tat"
Auch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg verurteilte die Zerstörung des Staudamms. Der Vorfall gefährde Tausende Zivilisten und verursache schwere Umweltschäden, schrieb er auf Twitter. "Dies ist eine ungeheuerliche Tat, die einmal mehr die Brutalität von Russlands Krieg in der Ukraine demonstriert."
Bestürzt zeigte sich auch EU-Ratspräsident Charles Michel. "Schockiert über den beispiellosen Angriff auf den Nowa-Kachowka-Staudamm", schrieb er auf Twitter. "Die Zerstörung ziviler Infrastruktur gilt eindeutig als Kriegsverbrechen - und wir werden Russland und seine Stellvertreter zur Rechenschaft ziehen." Er werde das Thema beim nächsten EU-Gipfel Ende Juni aufbringen und mehr Hilfe für die überfluteten Gebiete vorschlagen.
Damm Mitte der 1950er-Jahre in Betrieb genommen
Russland hatte das Nachbarland Ukraine im Februar vergangenen Jahres überfallen und dann auch das Gebiet Cherson besetzt. Im vergangenen Herbst gelang der ukrainischen Armee die Befreiung eines Teils der Region - auch der gleichnamigen Gebietshauptstadt Cherson. Städte südlich des Dnipro blieben allerdings unter russischer Kontrolle, auch die Staudamm-Stadt Nowa Kachowka.
Der Staudamm wurde Mitte der 1950er-Jahre in Betrieb genommen. Er ist am Lauf des Dnipro die sechste und letzte Staustufe vor dem Schwarzen Meer. Die Anlage macht den flachen Strom schiffbar. Sie staut das Wasser auf 200 Kilometer Länge zwischen Saporischschja und Nowa Kachowka und hält etwa 18 Milliarden Kubikmeter Wasser. Aus dem Reservoir wurden weite Regionen im Süden bis hin zur Krim bewässert. Außerdem wird Strom erzeugt mit einem Wasserkraftwerk, das nach Betreiberangaben 334 Megawatt Leistung hat.