Nach Dammbruch in Südukraine Zehntausende müssen in Sicherheit gebracht werden
Die Folgen des Dammbruchs in der Region Cherson sind noch nicht absehbar. Mehrere Orte sind überflutet, Anwohner fliehen aus den bedrohten Gebieten.
Nach der teilweisen Zerstörung des Kachowka-Staudamms in der Region Cherson haben die ukrainischen Behörden Evakuierungen für rund 17.000 Menschen eingeleitet. Es bestehe Überflutungsgefahr für Gegenden mit insgesamt mehr als 40.000 Einwohnern, erklärte der ukrainische Generalstaatsanwalt Andrij Kostin in Online-Netzwerken. Derzeit brächten die Behörden allein auf der ukrainisch kontrollierten Seite des Flusses Dnipro mehr als 17.000 Menschen in Sicherheit.
Weitere rund 25.000 Menschen seien auf der von Russland besetzten Seite in Gefahr, hieß es zudem aus Kiew. Über ihr Schicksal war zunächst wenig bekannt.
Der in russisch besetztem Gebiet liegende Kachowka-Staudamm am Dnipro war bei einer Explosion in der Nacht teilweise zerstört worden. Durch die breite Bresche in der Mauer strömten Wassermassen aus dem Stausee ungehindert aus und setzten viele Ortschaften im flachen Süden der Ukraine unter Wasser. Sowohl die russischen als auch die ukrainischen Behörden stellten Züge und Busse bereit, um die Menschen aus dem Gefahrengebiet zu bringen.
Innenminister: 24 Ortschaften überflutet
Nach Angaben des ukrainischen Innenministers Igor Klymenko wurden 24 Ortschaften überflutet. Der ukrainische Ministerpräsident Denys Schmyhal sprach von Überschwemmungsgefahr für bis zu 80 Ortschaften. Militärgouverneur Olexander Prokudin berichtete von zunächst acht Ortschaften, die ganz oder teilweise unter Wasser stünden - darunter auch Teile der Stadt Cherson. Angaben über Tote oder Verletzte gab es zunächst nicht.
Der zerstörte Staudamm liegt etwa 80 Kilometer nordöstlich von Cherson. Schraffiert dargestellt sind von Russland besetzte Gebiete.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach von der "größten menschengemachten Umweltkatastrophe in Europa seit Jahrzehnten". Das Hilfswerk Caritas teilte mit, in den Städten Odessa und Mykolajiw seien Zentren für Hochwasser-Flüchtlinge eingerichtet worden. Bislang wisse man von 600 überfluteten Häusern, hieß es. Sollte der Wasserstand im Kachowka-Stausee auf eine Höhe von unter 14 Metern absinken, drohe rund 200.000 Menschen auch außerhalb des Gebiets Cherson Wasserknappheit, warnte die Organisation.
Auch das an dem Staudamm gelegene Wasserkraftwerk wurde nach Angaben des ukrainischen Energiebetreibers Ukrhydroenergo vollständig zerstört. Der ukrainischen Führung zufolge gelangten mindestens 150 Tonnen Maschinenöl in den Fluss Dnipro. 300 weitere Tonnen Öl drohten noch auszulaufen, hieß es am Rande einer Sitzung des nationalen Sicherheitsrats.
Gegenseitige Beschuldigungen
Die humanitären, ökologischen und militärischen Folgen des Dammbruchs sind noch nicht absehbar. Der Westen und die Ukraine machten Moskau für die Explosion verantwortlich. Selenskyj verglich sie mit dem Einsatz einer Massenvernichtungswaffe. Der ukrainische Präsidentenberater Michailo Podoljak warf Russland vor, den Staudamm "gesprengt" zu haben.
Der Kreml wiederum sprach von "Sabotage" vonseiten der Ukraine. Selenskyj wies dies zurück. "Russland kontrolliert den Kachowka-Damm mit dem Wasserkraftwerk seit über einem Jahr", sagte er nach Angaben seines Präsidialamtes. "Und es ist physisch unmöglich, ihn von außen durch Beschuss zu zerstören." Der Staudamm sei von russischen Soldaten vermint worden. "Und sie haben ihn gesprengt."
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Scholz: "Neue Dimension" des Kriegs
Bundeskanzler Olaf Scholz nannte die Zerstörung des Kachowka-Staudamms eine "neue Dimension" des Kriegs. Die Beschädigung des Damms sei etwas, "das zu der Art und Weise passt, wie Putin diesen Krieg führt", sagte er beim "Europaforum" des WDR. Er warf Moskau vor, in dem seit mehr als 15 Monaten dauernden Krieg immer stärker zivile Ziele anzugreifen.
Außenministerin Annalena Baerbock machte Russland für die Überflutungen verantwortlich. "Für diese menschengemachte Umweltkatastrophe gibt es nur einen Verantwortlichen: der verbrecherische Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine", sagte die Grünen-Politikerin.
Die Bundesregierung kündigte Hilfen an. Deutschland werde der Ukraine zur Seite stehen, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Man wolle vor allem dabei helfen, evakuierte Menschen versorgen zu können. "Das THW bereitet deshalb bereits jetzt mit Hochdruck deutsche Hilfslieferungen für die betroffene Region vor", so Faeser. Unter den möglichen Hilfsgütern sind laut THW Wasserfilter und Stromerzeuger, die in dem betroffenen Gebiet dringend benötigt würden.
Stoltenberg: "Ungeheuerliche Tat"
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hielt Moskau vor, Tausende Zivilisten zu gefährden und schwere Umweltschäden in Kauf zu nehmen. "Dies ist eine ungeheuerliche Tat, die einmal mehr die Brutalität von Russlands Krieg in der Ukraine demonstriert." EU-Ratspräsident Charles Michel sprach von einem "beispiellosen Angriff", der britische Außenminister James Cleverly von einem Kriegsverbrechen.
Auch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) verurteilte die Zerstörung des Kachowka-Staudamms. "Zehntausende Menschen sind in einer desolaten Situation", teilte die für die Region zuständige IKRK-Regionaldirektorin Ariane Bauer mit. "Die Zerstörung von wichtiger Infrastruktur kann ganze Bevölkerungsgruppen in Verzweiflung stürzen und sie zugrunde richten."
Damm Mitte der 1950er-Jahre in Betrieb genommen
Russland hatte das Nachbarland Ukraine im Februar vergangenen Jahres überfallen und dann auch das Gebiet Cherson besetzt. Im vergangenen Herbst gelang der ukrainischen Armee die Befreiung eines Teils der Region - auch der gleichnamigen Gebietshauptstadt Cherson. Städte südlich des Dnipro blieben allerdings unter russischer Kontrolle, auch die Staudamm-Stadt Nowa Kachowka.
Der Staudamm wurde Mitte der 1950er-Jahre in Betrieb genommen. Er ist am Lauf des Dnipro die sechste und letzte Staustufe vor dem Schwarzen Meer. Die Anlage macht den flachen Strom schiffbar. Sie staut das Wasser auf 200 Kilometer Länge zwischen Saporischschja und Nowa Kachowka und hält etwa 18 Milliarden Kubikmeter Wasser.