Brasilien Kippt das System Regenwald?
Dem Amazonas-Gebiet setzt vieles zu: das Wetterphänomen El Niño, aber auch die Folgen des Klimawandels. Für die Menschen, die dort leben, sind die Folgen schon jetzt massiv. Ist die Entwicklung noch umkehrbar?
Es ist Regenzeit, doch in der Gemeinde Sissayama, 100 Kilometer nordöstlich der brasilianischen Stadt Manaus, spürt man davon nichts. Die 39 Familien des indigenen Dorfs der Mura fühlen sich von der Umwelt nahezu abgeschnitten. Sie leben in kleinen Holzhäusern an einem Flussarm, doch der ist nur noch wenige Zentimeter tief.
Normalerweise würden sie mit ihren kleinen Motorbooten eine Stunde zum nächstgelegenen Ort fahren und könnten sich dort mit Lebensmitteln versorgen, sie würden Maniokmehl verkaufen, ihre Kinder würden zur Schule gehen. Würden.
Ohne Fluss keine Verbindung zur übrigen Welt
Doch die Reise dauert nun mindestens drei Stunden. Ein bis zwei Stunden sind es zunächst zu Fuß, über dürre Stege, durch eine ungewöhnlich große Hitze, danach geht es weiter auf einem kleinen flachen Boot, dann noch einmal umsteigen auf ein größeres, wenn sie einen größeren Nebenarm erreichen.
Osseias Cordero ist der "Cacique" des Ortes, der Anführer der Gemeinde. Der 44-Jährige steckt die Hand ins Wasser.
"Nicht mal 20 Zentimeter, eine Handbreit" sei es hier tief. "Etwas mehr Gewicht im Boot und dann geht nichts mehr. Ich weiß nicht, wenn das so weitergeht, trocknet der Fluss völlig aus und wir sind komplett abgeschnitten."
Die Auswirkungen von El Niño
Das Amazonas-Becken ist mit der schlimmsten Dürre seit 122 Jahren konfrontiert. Die Wasserstände sind extrem niedrig, dafür die Luft- und Wassertemperaturen extrem hoch. Immer wieder kommt es zu Waldbränden.
Tagelang lagen im Oktober dichte Rauchschwaden über der Stadt Manaus, die das Atmen zur Belastung machten.
Grund dafür ist das Klimaphänomen El Niño und vermutlich auch die Erwärmung des tropischen Nordatlantiks, der laut Wissenschaftlern im Zusammenhang mit dem globalen Klimawandel steht.
Die Jagd wird immer schwieriger
In Sissamaya hat das konkrete Auswirkungen auf das Leben. Da ist die soziale Isolation einerseits, dazu kommt aber das Problem der Ernährungssicherheit. Osseias und seine Nachbarn waten durch den Fluss und versuchen mit Netzen und Harpunen Fische zu fangen.
Allein Osseias hat acht Kinder, die Männer fangen nur fünf Fische. Das reicht nur für eine kleine Mahlzeit und eben auch nur eine. Auch die Jagd nach Tieren hat sich erschwert.
Gerne würden sie einen Hirsch erlegen - das sei ein Tier, das Fleisch für viele Menschen für mehrere Tage bietet. "Aber dafür müssten wir jetzt ein, zwei Tage auf Jagd gehen. Viele Tiere sind weitergezogen auf der Suche nach Wasser."
Auch die Pflanzen geben weniger her
Tardeles Faria de Carvalho beugt sich an einem Hang über ein kleines Maniok-Pflänzchen, der Schweiß steht ihm auf der Stirn. Maniok ist eine nahrhafte Wurzel, wie eine Kartoffel und sie ist die Hauptquelle für Kohlehydrate im Speiseplan der Menschen hier.
Die Pflanze wächst nicht. Es ist zu heiß. Für Tardeles ist das "einfach nur traurig. Es hat mir so viel Arbeit gemacht, das alles zu pflanzen. Total erfolglos. Und ein Einkommensverlust. Ich bete zu Gott, dass es bald regnet."
Wenig Proteine, wenig Kohlenhydrate - auch das ist ein großes Problem.
Osseias Cordero und die Bewohner von Sissayama müssen lange Wege gehen, um zum nächstgelegenen Ort zu gelangen.
Der CO2-Speicher setzt nun CO2 frei
Luciana Gatti läuft mit schnellen Schritten durch die nüchternen Flure, in ihr Büro in São Paulo. Am nationalen Institut für Weltraumforschung untersucht sie das Klima im Amazonas-Becken.
Gatti zeigt einen Koffer, der mit Glaszylindern gefüllt ist. Darin sammelt sie Luftproben. Gatti fliegt über dem Regenwald und nimmt in unterschiedlichen Höhen Luftproben. Danach wertet sie die Luftzusammensetzung aus.
Sie hat dabei festgestellt, dass der Regenwald dort, wo er stark abgeholzt wurde, CO2 freisetzt. CO2, das treibt die Erderwärmung an.
Ein gigantischer Vorrat
Eigentlich macht der größte Regenwald der Erde das Gegenteil. Er ist eine gigantische CO2-Senke. Etwa 150 bis 200 Milliarden Tonnen Kohlenstoff sind in Biomasse und Böden gespeichert.
In manchen Regionen des Amazonas-Gebiets sind 30 Prozent, andernorts fast 40 Prozent des Tropenwaldes abgeholzt. Vor allem für die Rinder- und Soja-Produktion.
Und dort ist es nun heißer, es regnet weniger und dort setze der Regenwald CO2 frei, sagt Gatti. Die Menschheit schreite auf den Klimakollaps der Erde zu - "und zwar viel früher, als alle Modelle vorhergesagt haben. Wir verändern die Temperatur unserer Erde. Wir holzen ab, wir verlieren die kühlenden Bäume und ersetzen sie durch Rinder- oder Sojaplantagen."
"Klimaairbag", so nennt Gatti den Regenwald. Das Weltklima brauche einen gesunden Regenwald, so Gatti, um den globalen CO2-Ausstoß aufzufangen. Doch der Amazonas-Regenwald verliert an Widerstandskraft, zeigen Studien.
Flüsse trocknen aus, große Flächen werden gerodet: Der Amazonas könnte seine Funktion als "Klimaairbag" verlieren.
Der Regenwald regeneriert sich langsamer
Bei etwa drei Viertel des Waldes hat die Fähigkeit, sich von Bränden oder Dürren zu erholen, abgenommen. Das kann ein erhöhtes Risiko für das Absterben des Amazonas-Regenwaldes bedeuten, fürchten Wissenschaftler.
Das ganze System Regenwald droht zu kippen. Denn ein gesunder Regenwald produziert selbst Regen. Damit kühlt er die Atmosphäre und beeinflusst die notwendigen Niederschläge vor Ort und in ganz Südamerika.
Durch die Hitze und Dürre fehlt den Bäumen das Wasser. Der Regenwald produziert weniger Regen. Wenn das so weitergeht, könnte er sich unumkehrbar in eine Savanne verwandeln.
"Können wir jetzt mit Gewissheit sagen, dass wir am Kipppunkt stehen? Wir können es nicht. Aber wir müssen unser Bestes geben, um das Ruder rumzureißen, denn es geht um unser Überleben", sagt Gatti.
Massive Konsequenzen
Kippt der Regenwald, hat das Konsequenzen für den Planeten, die Menschen der Region und die gigantische Artenvielfalt, die der Amazonas beherbergt: für Fluss-Delfine, Jaguare, Tucane.
Die illegale Abholzung ist nach Angaben der neuen Regierung von Januar bis Oktober um 61 Prozent zurückgegangen. Bis 2030 soll sie komplett gestoppt werden.
Doch das alleine reiche nicht, sagt Gatti. Es brauche massive Aufforstung und ein Umdenken der Menschheit weltweit. Sie selbst hat aufgehört, Rindfleisch zu essen.
Die Mura in Sissayama fühlen sich ohnmächtig der Situation ausgeliefert. Sie unterrichten ihre Kinder in den alten Traditionen, erklären ihnen, mit der Natur zu leben. Doch sie sorgen sich, ob ihre Kinder noch eine Zukunft in der Heimat haben.
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