Dschihadisten in Aleppo.
interview

Aufständische in Aleppo "Die Schwäche der Verbündeten Syriens genutzt"

Stand: 03.12.2024 08:40 Uhr

Die Dschihadisten in Syrien haben die Schwäche Russlands, des Iran und der Hisbollah genutzt, um Assads Armee zu überrumpeln, meint Nahost-Experte Steinberg. Die Offensive sei möglicherweise Teil einer größeren Strategie der Türkei.

tagesschau.de: In wenigen Tagen haben islamistische Rebellen Aleppo im Nordwesten Syriens eingenommen. Wie konnte das in so kurzer Zeit gelingen?

Guido Steinberg: Diese Offensive kommt vollkommen unerwartet. Kaum jemand - ich jedenfalls nicht - hat damit gerechnet, dass die syrischen Rebellen noch einmal zu einer großen Offensive in der Lage wären.

Der Grund für diesen Erfolg liegt darin, dass auch das syrische Regime keine offensiven Operationen erwartet hat. Dazu kommt die Gesamtsituation, dass die Unterstützer der syrischen Armee, also vor allem Russen, Iraner und Hisbollah, im Moment mit anderen Dingen beschäftigt sind.

Guido Steinberg
Zur Person
Guido Steinberg ist promovierter Islamwissenschaftler und Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Von 2002 bis 2005 war er Terrorismusreferent im Bundeskanzleramt. Er forscht vor allem zu den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens und hat mehrere Bücher über Al Kaida veröffentlicht.

"Assad-Regime hatte keine Ahnung"

tagesschau.de: Das heißt also, Machthaber Baschir al Assad war schlecht vorbereitet und wurde überrumpelt?

Steinberg: Ja, ganz offensichtlich. Das Assad-Regime verfügt im Prinzip immer noch über genügend gut ausgebildete Truppen, um eine Stadt wie Aleppo zu schützen. Dass die Stadt trotzdem in so kurzer Zeit überrannt wurde, ist ein Hinweis darauf, dass das Assad-Regime überhaupt keine Ahnung davon hatte, was im Rebellengebiet vor sich geht.

Das syrische Regime hat im Dezember 2016 Aleppo nur deshalb einnehmen können, weil es die Unterstützung von Russland, vom Iran, aber auch von der libanesischen Hisbollah hatte.

Karte: Syrien | Schraffiert: von verschiedenen Kräften kontrollierten Gebiete

All diese Akteure sind im Moment beschäftigt: Russland mit dem Krieg in der Ukraine, Iran mit seiner Schwäche im Konflikt mit Israel und die Hisbollah mit den Folgen des israelischen Angriffs auf den Libanon seit Oktober.

Die Rebellen haben die Schwäche der Verbündeten Syriens genutzt. Und ohne diese Verbündeten ist die syrische Armee kaum in der Lage, außerhalb des Großraums von Damaskus erfolgreich zu operieren.

"Für die Bevölkerung eine Schreckensherrschaft"

tagesschau.de: Um was für eine Gruppe handelt es sich bei den Rebellen namens Haiat Tahrir al-Scham (HTS), die jetzt so erfolgreich waren?

Steinberg: Übersetzt heißt Haiat Tahrir al-Scham "Befreiungskomitee Syriens". Dabei handelt es sich um eine Nachfolgeorganisation der Al-Nusra-Front, die sich 2017 gebildet und von Al Kaida losgesagt hat.

Die HTS gibt sich etwas moderater als Al Kaida. Sie präsentiert sich schon seit 2017 als eine Art "syrische Taliban", also eine nationalistische und gleichzeitig islamistische Gruppierung, die darauf hofft, von den Terrorismuslisten westlicher Länder gestrichen zu werden.

Das ändert aber nichts daran, dass sich in ihren Reihen viele Dschihadisten befinden und unter ihnen auch viele Ausländer, unter anderem auch einige Dutzend Deutsche.

Wir müssen deshalb damit rechnen, dass die Organisation auch wie eine dschihadistische Gruppe vorgeht und dass sie auch Gewalttaten gegen religiöse und ethnische Minderheiten verübt. Und dass das für die Bevölkerung, vor allem in den von Christen und Kurden besiedelten Vierteln Aleppos, eine Schreckensherrschaft bedeuten wird.

"Ohne türkische Duldung oder Unterstützung nicht möglich"

tagesschau.de: In Berichten heißt es, dass die HTS sich nur deshalb gegen die Assad-Truppen durchsetzen konnte, weil ihr Vorgehen mit der Türkei abgestimmt gewesen sei. Teilen Sie diese Einschätzung?

Steinberg: Ja. Das Rebellengebiet in Idlib im Nordwesten Syriens, das nun Ausgangspunkt der Offensive war, ist seit 2017 eine Art türkisches Protektorat. Im Februar 2020 gab es die letzten größeren Kampfhandlungen, bei denen türkische Truppen direkt gegen Assad-Militär gekämpft haben.

Seitdem sind auch immer einige Tausend Mann des türkischen Militärs dort präsent. Ohne eine türkische Duldung und vielleicht sogar türkische Unterstützung wäre diese Offensive gar nicht möglich gewesen.

Teil einer größeren türkischen Strategie?

tagesschau.de: Welche Interessen hat der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, jetzt Assad zu schwächen?

Steinberg: Zum einen gibt es da ein kurzfristiges Interesse. Es gab in den letzten Monaten eine Annäherung zwischen Damaskus und Ankara. Das Interesse Ankaras war vor allem, syrische Flüchtlinge aus der Türkei nach Syrien zurückzuschicken.

Das Assad-Regime hatte dem prinzipiell zugestimmt, aber die Bedingung gestellt, dass die Türkei ihre Truppen aus Nordsyrien zurückzieht. Da diese Verhandlungen stockten, könnte es jetzt im Interesse der türkischen Regierung sein, den Druck auf Damaskus zu erhöhen.

Zum anderen dürfte das, was wir in Syrien sehen, der Hinweis auf eine etwas größer angelegte türkische Strategie sein. Ich vermute, dass die Türkei längerfristig große Teile von Nord- und Ostsyrien einer zumindest indirekten Kontrolle unterwerfen und damit vor allem das kurdische Autonomiegebiet im Nordosten Syriens in Schach halten oder sogar beseitigen will. Dort herrscht nämlich ein Ableger der türkischen PKK.

Luftwaffe aus Russland und Bodentruppen des Irans

tagesschau.de: Lassen Sie uns noch mal auf die Optionen Assads schauen. Muss er damit rechnen, dass sein langjähriger Verbündeter, Russlands Präsident Wladimir Putin, ihn wegen des Ukraine-Kriegs weniger unterstützt?

Steinberg: Die russischen Luftangriffe der letzten Tage sind ein Indiz dafür, dass Russland weiterhin an der Seite des Assad-Regimes steht.

Man muss sich auch immer die Situation 2016 vor Augen führen, als Aleppo vom Assad-Regime zurückerobert wurde. Russland stützte Assad damals vor allem durch seine Luftwaffe. Moskau schickte zwar auch einige Spezialkräfte, Milizionäre der Wagner-Miliz und tschetschenische Militärpolizei, aber insgesamt nur sehr wenige Bodentruppen.

Wer vor allem Bodentruppen schickte, waren die iranischen Revolutionsgarden. Mithilfe der libanesischen Hisbollah wurden irakische, afghanische und auch einige pakistanische Schiitenmilizen in den Kampf um Aleppo geschickt.

Das große Problem des Assad-Regimes heute besteht darin, dass die Hisbollah infolge des Kriegs mit Israel so stark geschwächt ist, dass sie nicht mehr so viele Kämpfer für den Krieg in Syrien entbehren kann. Ich gehe aber davon aus, dass die Iraner schiitische Milizen schicken - etwa aus dem Irak oder aus Afghanistan - und dass damit einige Personalprobleme der syrischen Armee gelöst werden.

"Wird sehr schwierig, Rebellen aus Aleppo zu vertreiben"

tagesschau.de: Kann es also sein, dass der Vormarsch der Rebellen schnell gestoppt wird und Assads Truppen wieder Aleppo erobern?

Steinberg: Ich glaube, dass der Vormarsch sehr schnell stoppen wird. Ganz einfach deshalb, weil die Rebellen Probleme haben werden, die Logistik über größere Entfernungen zu organisieren und der Widerstand der Assad-Truppen stärker wird. Es wird aber sehr schwierig werden, die Rebellen aus einer so großen Stadt wie Aleppo wieder zu vertreiben.

Und das hängt damit zusammen, dass die Rebellen mehrere zehntausend Mann zur Verfügung haben, teils hochmotivierte und opferbereite dschihadistische Gruppierungen. Wenn sich die Rebellen dazu entscheiden, kann es einen Kampf um jedes Viertel und jedes Haus geben.

Der Unterschied zur Situation 2016 ist, dass die Rebellen damals vor allem sunnitische Gebiete im Osten der Stadt kontrollierten. Jetzt haben sie auch die Minderheitenviertel im Westen der Stadt eingenommen, die eigentlich die Hochburgen des Regimes sind. Da leben Kurden, Christen, die sunnitische Mittelschicht und auch einige Alawiten, die den Aufständischen ablehnend gegenüberstehen.

Es wird sehr schwierig für das Regime, in diesen Teilen der Stadt beispielsweise mit Luftwaffe oder schwerer Artillerie anzugreifen, weil sie damit letzten Endes ihre eigene Machtbasis bekämpfen.

Das Gespräch führte Jörn Unsöld, tagesschau.de