Ausstieg im April 2023 Wo Deutschland nach einem Jahr ohne Atomkraft steht
Vor einem Jahr gingen die letzten deutschen Atommeiler vom Netz. Seither importiert Deutschland viel Strom - was aber nicht nur mit dem Ausstieg zu tun hat. Der deutsche Strommix ist laut Experten sauber wie nie.
Am 15. April 2023, kurz vor Mitternacht, sind in Deutschland die letzten drei Atommeiler endgültig vom Netz gegangen. Nach jahrelangen Diskussionen um den Zeitpunkt des Herunterfahrens gibt es auch noch ein Jahr später Streitpunkte zum Thema Atomausstieg.
So hält sich auf der Plattform X - vormals Twitter - etwa hartnäckig die Behauptung, Deutschland habe den eigenen Atomstrom lediglich durch Atomstromimporte ersetzt. CDU-Politiker Jens Spahn bezeichnete die Bundesregierung in dem Kontext auf X als "Kohle-Koalition". Dazu schrieb er: "CO2-emmissionsfreie Kernkraftwerke abschalten und stattdessen ein Kohlekraftwerk nach dem anderen zurück ans Netz holen müssen". Aber ist das so? Wo steht Deutschland nach einem Jahr ohne Atomkraft?
Deutschland erzeugt weniger Strom
Zahlen des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme ISE zufolge produzierte Deutschland in den zwölf Monaten vor dem Atomausstieg 476 Terawattstunden Strom. Die Angaben beziehen sich dabei auf die sogenannte öffentliche Nettostromerzeugung - also den Strommix, der tatsächlich zu Hause aus der Steckdose kommt. Im Jahr nach dem Atomausstieg - also im Zeitraum zwischen dem 16. April 2023 und dem 15. April 2024 - wurden in Deutschland 425 Terawattstunden erzeugt.
Die letzten drei Kernkraftwerke Emsland A, Isar 2, Neckarwestheim 2 erzeugten den Zahlen zufolge in ihrem letzten Betriebsjahr bis April 2023 29,5 Terawattstunden Strom. Sie deckten demnach 6,3 Prozent der sogenannten Last in diesem Zeitraum. Die Last bezeichnet den Stromverbrauch plus Netzverluste.
Verbrauch nach Atomausstieg geringer
Demgegenüber steht allerdings auch, dass die Last im Jahr nach dem Atomausstieg geringer war - also auch weniger Strom in Deutschland verbraucht wurde. So lag die Last im Jahr vor dem Ausstieg bei 468 Terawattstunden, im Jahr nach dem Ausstieg betrug sie 459. Bruno Burger, Energieexperte am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE, sieht darin etwa eine Folge der hohen Strompreise aufgrund des Krieges in der Ukraine und der reduzierten Erdgaslieferungen aus Russland.
Im Gespräch mit dem ARD-faktenfinder folgert Burger: "Wir hatten große Preissprünge aufgrund des Ukraine-Krieges und der Gasknappheit und aufgrund der Kernkraftwerke in Frankreich, die nicht liefen." Das habe dazu geführt, dass die Preise 2022 exorbitant gestiegen seien. Das wiederum habe für Investitionen in stromsparende Prozesse und Geräte und Solaranlagen gesorgt - sowohl in der Industrie als auch im Privatbereich. Diese Entwicklung sei nicht nur in Deutschland zu beobachten gewesen, sondern in ganz Europa.
Mehr Strom durch erneuerbare Energien
Den Ausstieg aus der Kernenergie hat Deutschland in den vergangenen zwölf Monaten laut Burger energetisch durch erneuerbare Energien kompensiert. Dabei stützt sich Burger auf Zahlen des ISE, wonach im Jahr nach dem Atomausstieg mit 269 Terawattstunden 32 mehr durch Erneuerbare erzeugt wurden als im letzten Jahr mit Atomkraft.
Laut der Bundesnetzagentur stieg der Anteil der erneuerbaren Energien am deutschen Verbrauchsmix - also der Erzeugung inklusive Außenhandels - deutlich: Im Zeitraum vom 1. April 2022 bis zum 15. April 2023 - als die Atomkraftwerke noch liefen - betrug der Anteil demnach 48,7 Prozent. Im Zeitraum vom 16. April 2023 bis zum 31. März 2024 lag er bei 58,3 Prozent.
Gesicherte Kraftwerksleistung geht zurück
Ein weiterer Aspekt ist laut Burger der Rückgang der sogenannten gesicherten Kraftwerksleistung. Damit wird die Summe der Stromerzeugung ohne die fluktuierenden erneuerbaren Quellen angegeben. Denn der Wind weht nicht konsistent, die Sonne scheint auch nicht immer gleich viel. Dazu kommt laut Burger die Abschaltung von Kohlekraftwerken im März, die im Zuge der Energiekrise aus der Reserve zurückgeholt worden waren. Diese Frist endete im März.
Durch das Abschalten dieser Kohlekraftwerke gehe die gesicherte Kraftwerksleistung zusätzlich zurück, erläutert Burger. "Auf der anderen Seite kommen jetzt zunehmend Batteriespeicher, auch große Batteriespeicher, ins Netz, die dann auch wieder einspringen können, parallel zu den Pumpspeichern, so dass ich jetzt da noch kein Defizit sehe", ergänzt der Energieexperte. Hauke Hermann, Energieexperte am Öko-Institut, sieht das ähnlich. Er sagt: "Die Stromversorgung hängt nicht an einzelnen Kraftwerken, sondern wird über die Mechanismen des Strommarktes und die bereits vorhandenen Reservekraftwerke sichergestellt."
Deutlich mehr Strom importiert
Die Bundesnetzagentur gibt für den Zeitraum April 2023 bis März 2024 rund 36,8 Terawattstunden Exporte und rund 58,4 Terawattstunden Importe an. Daraus ergeben sich im Saldo Importe von 21,6 Terawattstunden. So viel hatte Deutschland in den Jahren zuvor nicht importiert. Im Gegenteil: In den vergangenen Jahren verzeichnete Deutschland vor allem Exporte.
Dafür gibt es aber mehrere Gründe. Laut Burger waren damals "die CO2-Emissionszertifikate noch sehr günstig und die Braunkohlekraftwerke haben viel Strom produziert für den Export". Ein kleiner Teil sei laut Burger wegen des Atomausstiegs - ein anderer Teil sei vor allem wegen des Zubaus von erneuerbaren Energien in anderen Ländern auf dem europäischen Strommarkt. "Deshalb ist es so, dass die Importe einfach dadurch zustande gekommen sind, weil sie eben günstiger waren als eigene Erzeugung", sagt Burger.
Während Deutschland mehr Strom durch erneuerbare Energien erzeugte, wurde zudem zeitgleich weniger Strom durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe gewonnen. Wie die ISE-Zahlen zeigen, wurden im letzten Jahr mit Atomkraft noch 210 Terawattstunden fossil erzeugt - im Jahr nach dem Atomausstieg dann 155 Terawattstunden. Dieser Rückgang wurde in Deutschland laut Burger hauptsächlich durch Stromimporte kompensiert.
Deutschland könnte, wenn es müsste
Was die Importe nicht zeigen, ist eine fehlende Fähigkeit Deutschlands, den Strom selbst zu erzeugen - bestätigt auch Hermann, Energieexperte am Öko-Institut. Er erklärte im Gespräch mit dem ARD-faktenfinder: "Wenn wir Strom importieren, ist das jetzt nicht ein Ausdruck von Mangel in Deutschland, dass wir nicht genug Kraftwerke hätten, sondern es ist einfach ein Marktergebnis des Strommarktes." Auch die Bundesnetzagentur schrieb auf Anfrage:
Deutschland verfügt über ausreichend Erzeugungskapazität, um den Strombedarf auch ohne Importe jederzeit zu decken.
Das Bundeswirtschaftsministerium verwies ebenfalls auf den europäischen Strommarkt: "Das ist keine Frage der Versorgungssicherheit, sondern der Kosteneffizienz." Statt zu importieren, hätte Deutschland seinen Stromverbrauch im vergangenen Jahr laut dem Ministerium auch mit Kraftwerken im Inland decken können. "Dies hätte jedoch mehr CO2-Emissionen und höhere Stromrechnungen für die deutschen Stromkunden bedeutet."
Der Strommarkt in der EU funktioniert nach dem sogenannten Merit-Order-Prinzip. Dies bezeichnet die Einsatzreihenfolge der an der Strombörse anbietenden Kraftwerke. Kraftwerke, die billig Strom produzieren können, werden zuerst herangezogen, um die Nachfrage zu decken. Das sind zum Beispiel Windkraftanlagen. Am Ende richtet sich der Preis aber nach dem zuletzt benötigten, also teuersten Kraftwerk - oft Gaskraftwerke.
Eine zu große Abhängigkeit vom europäischen Strommarkt beobachtet Hermann vom Öko-Institut indes nicht. Er sagt: "Nur weil täglich Stromhandel stattfindet, ist das ja keine Abhängigkeit, sondern wir haben ja Kraftwerkskapazitäten, die über Reserven vorgehalten werden." Diese könne man im Notfall nutzen.
Wenig Atomstromimporte
Die Behauptung, die etwa Nutzer auf X vertreten, Deutschland habe nach seinem eigenen Atomausstieg besonders Atomstrom aus anderen Ländern importiert, weist Burger vom Fraunhofer Institut zurück. Er verweist dabei auf Zahlen von Agora Energiewende. Demnach waren 2023 24 Prozent des importierten Stroms beziehungsweise 16,6 Terawattstunden Atomstrom. Das sind 3,6 Prozent der Last, also des Stromverbrauchs. Die Bundesnetzagentur ergänzte diese Zahlen mit der Aussage, der Anteil der Atomenergie am deutschen Verbrauchsmix sei den vergangenen zwei Jahren von 7,27 Prozent auf 3,01 Prozent gesunken.
"Da muss man dazu sagen, dass der Import ja hauptsächlich im Sommer zustande kommt und das ist ja dann mehr oder weniger überschüssiger Strom aus Frankreich", ergänzt Burger. Frankreich habe laut Burger im Sommer immer zu viel Strom, "weil die Kernkraftwerke schlecht regelbar sind".
Im Zeitraum von Januar bis März 2024 hat Deutschland laut Bundesnetzagentur 15,4 Terawattstunden Strom importiert und 14,4 Terawattstunden exportiert. Das ergibt im Saldo einen Import von 1,0 Terawattstunden oder 0,8 Prozent des Stromverbrauchs.
Strommix "so sauber wie nie"
Der deutsche Strommix ist laut Burger so sauber wie nie. Ursache hierfür sind laut Burger hauptsächlich die hohen Preise für fossile Energien und für CO2-Emissionszertifikate sowie der Ausbau der erneuerbaren Energien in ganz Europa.
Auch über den Import gelangt laut dem Experten viel Strom mit niedrigen Treibhausgasemissionen nach Deutschland - abhängig von der Jahreszeit. "Im Frühling ist es viel Wasserkraft aus der Schweiz und Österreich vom Schmelzwasser, im Sommer ist es übrige Kernkraft aus Frankreich und aus anderen Ländern, die Kernkraft haben. Hinzu kommt Windstrom aus Dänemark und Wasserkraftstrom aus Norwegen."
Fossile Importe gibt es laut Burger wenig, nicht zuletzt, weil fossile Kraftwerke "in fast allen Ländern gleich teuer sind, weil sie ähnliche Brennstoffpreise haben und ähnliche CO2-Zertifikatspreise".
Atomausstieg: keine Auswirkungen auf Preise
Ebenfalls eine Absage erteilt Burger der Aussage, Deutschland habe mit den Atomkraftwerken die Fähigkeit verloren, günstig Strom zu erzeugen. Die Stromerzeugung mit erneuerbaren Energien sei vergleichsweise günstig - Atomkraftwerke zu unterhalten oder gar neue zu bauen dagegen nicht.
Eine Änderung des Großhandelspreises rund um den Atomausstieg im April 2023 ist laut der Bundesnetzagentur nicht erkennbar. Auch Thorsten Storck vom Vergleichsportal Verivox sieht das so. Laut Storck hatte der Atomausstieg im April 2023 "wie erwartet keine konkreten Auswirkungen auf die Strompreise für Haushaltskunden".
Der Großhandelspreis für Strom (Spotmarktpreis im monatlichen Durchschnitt) habe im März 2023 bei rund 10,2 Cent pro Kilowattstunde gelegen. Im März 2024 lag er laut Storck bei 6,4 Cent pro Kilowattstunde und ist damit stark gefallen. Der durchschnittliche Strompreis für Haushalte laut dem Verivox-Verbraucherpreisindex Strom ist zwischen April 2023 und April 2024 von 42,58 Cent pro Kilowattstunde auf 35,31 Cent pro Kilowattstunde gefallen, was einer Abnahme von 17 Prozent entspricht.
Das liegt laut Storck vor allem an den deutlich niedrigeren Großhandelspreisen, da andere Strompreisbestandteile zugelegt haben - zum Jahreswechsel 2023/2024 sind die Stromnetzgebühren für private Verbraucher demnach um rund 25 Prozent angestiegen.
Mehr Sicherheit - Endlager kann gesucht werden
Das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) zeigte sich zufrieden mit dem deutschen Atomausstieg. Auf eine Anfrage des ARD-faktenfinders schrieb das BASE, Deutschland sei durch den im politischen Konsens beschlossenen Ausstieg aus der Atomkraft sicherer geworden. Dadurch sei das Risiko schwerwiegender Zwischen- oder Störfälle reduziert worden.
Durch die Abschaltung der letzten Atomkraftwerke ist zudem nun laut BASE die Menge der hochradioaktiven Abfälle klar definiert: Zu den 1.900 Castoren, die zukünftig und zeitlich begrenzt in Zwischenlagern aufbewahrt werden, werden keine weiteren hochradioaktiven Abfälle aus deutschen Atomkraftwerken hinzukommen und für diese kann nun ein Endlager gesucht und gefunden werden.