Beamte des Entschärfungsdienstes der Polizei in der Mannheimer Innenstadt.

Angriffe mit Autos Wie groß ist die Gefahr durch Nachahmungstäter?

Stand: 11.03.2025 09:05 Uhr

Magdeburg, München, Mannheim: Innerhalb weniger Monate haben Täter mit Autos Menschen getötet. Warum häufen sich Taten nach diesem Muster? Möglicherweise spielt der "Werther-Effekt" eine Rolle.

Von Heiko Wirtz-Walter und Tim Kukral, SWR

Der sogenannte Werther-Effekt besagt, dass detaillierte Berichte über einen Suizid zu Nachahmertaten führen können - unabhängig davon, ob es um Fiktion geht wie im namensgebenden Roman von Johann Wolfgang von Goethe ("Die Leiden des jungen Werther") oder um tatsächliche Ereignisse wie den Suizid des Fußballtorwarts Robert Enke 2009, der eine breite Berichterstattung nach sich zog.

Aber gibt es den "Werther-Effekt" wirklich nur bei Suiziden? Oder gibt es ihn auch bei Gewalttaten, die gegen das Leben anderer Menschen gerichtet sind, wie die Amokfahrten und Autoattentate von Mannheim, München oder Magdeburg?

Nach einer Gewalttat steigt das Risiko

"Wahrscheinlich gibt es so einen Effekt", sagt Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des Zentralinstituts für seelische Gesundheit in Mannheim. Zwar habe man in Deutschland nicht genügend Daten, um diese These zu untermauern. "Solche Gewalttaten, bei denen viele Menschen getötet werden, sind in Deutschland zum Glück extrem selten."

Anders sei es in den USA. "Dort gibt es solche Massentötungen ja vergleichsweise häufig", sagt er. "Meistens mit Schusswaffen." Deshalb sei in den USA die Datenlage besser. "Und da zeigen Studien, dass insbesondere in den ersten Wochen nach der medialen Berichterstattung über so eine Massentötung die Gefahr für weitere Massentötungen nach ähnlichem Muster deutlich ansteigt", so Meyer-Lindenberg. "Das heißt: gleiche Waffe, ähnlicher Ort."

Schätzungen zufolge steige das Risiko für eine solche Gewalttat danach um etwa ein Drittel: "Dadurch können solche Ereignisketten, wie wir sie gerade erleben, tatsächlich auch mit bedingt sein."

Akute Belastung spielt eine zentrale Rolle

Auch Sylvia Claus, Ärztliche Direktorin am Pfalzklinikum für Psychiatrie und Neurologie, spricht von einem "Werther-Effekt" mit Blick auf Taten wie die von Mannheim. Das gelte auch mit Blick auf das "Tatmittel" Auto. "Da spielt natürlich auch die Verfügbarkeit eine Rolle", so Claus. "Autos sind ja nichts, was ich mir mit hohem Aufwand besorgen muss."

Noch bedeutender bei solchen Taten als die Verfügbarkeit einer Tatwaffe und das "Vorbild" durch ähnliche Taten seien aber andere Faktoren. In der Regel gebe es im Leben eines Amoktäters im Vorfeld seiner Tat mindestens einen "akuten Anlass", sagt Meyer-Lindenberg und nennt Beispiele: "eine Trennung, ein Jobverlust, Mobbing am Arbeitsplatz oder in der Schule" - also belastende Situationen, die viele Menschen erleben und die nur wenige dazu verleiten, gewalttätig zu werden. Amoktäter seien aber in der Regel "Menschen, die leicht kränkbar sind, die sich leicht zurückgewiesen fühlen, oft auch ein übersteigertes Selbstwertgefühl haben".

Viele seien auf Grund dieser Eigenschaften auch schon vor einer Amoktat auffällig geworden, "zum Beispiel wegen Gewalt oder wegen Hassposts im Internet". Beides trifft auf Alexander S. zu, den Amoktäter von Mannheim: Er ist unter anderem wegen Körperverletzung und wegen eines rechtsextremen Facebook-Kommentars vorbestraft.

Schwere psychische Erkrankungen bei vielen Tätern

Das Landeskriminalamt Baden-Württemberg geht davon aus, dass bei Alexander S. "seit vielen Jahren eine psychische Erkrankung vorliegt". Auch beim Attentäter von München, bei dem ein islamistisches Motiv vermutet wird, gibt es laut Medienberichten Anzeichen für eine psychische Erkrankung. Er wurde inzwischen in eine psychiatrische Gefängnisabteilung verlegt. Mögliche psychische Beeinträchtigungen beim Attentäter vom Magdeburger Weihnachtsmarkt, der sich vor der Tat islamfeindlich äußerte und Anzeichen von Verfolgungswahn zeigte, prüft derzeit ein Gutachter.

Andreas Meyer-Lindenberg sagt: "Unter Amoktätern findet man mehr Menschen mit Psychosen und mit Suchterkrankungen als in der Allgemeinbevölkerung." Ihm und anderen Experten und Expertinnen wie Sylvia Claus ist es aber wichtig, zu betonen: Daraus, dass viele Amoktäter psychisch krank sind, dürfe man keinesfalls den Umkehrschluss ziehen, dass psychisch kranke Menschen grundsätzlich gefährlich seien. "Psychische Erkrankungen sind wirklich häufig", sagt Claus. Ungefähr ein Drittel der Allgemeinbevölkerung sei davon betroffen. "Die allermeisten dieser Menschen werden niemals gewalttätig in ihrem Leben."

Kein erhöhtes Gewaltrisiko bei häufigsten Erkrankungen

Die häufigsten psychischen Erkrankungen seien Depressionen und Angsterkrankungen. "Die gehen nicht mit einem erhöhten Gewaltrisiko einher", so Claus. Bei schweren Persönlichkeitsstörungen und Psychosen sowie bei Suchterkrankungen hingegen gebe es durchaus ein erhöhtes Risiko für Gewalttaten im Vergleich zu Menschen ohne eine solche Erkrankung. Aber auch hier gelte: "Die ganz große Mehrzahl von Menschen mit diesen psychischen Erkrankungen wird überhaupt nie gewalttätig."

Entsprechend schwierig bis unmöglich sei es, solche schweren Gewalttaten vorherzusagen. Andreas Meyer-Lindenberg veranschaulicht das an einem Beispiel: "So gut wie alle Amoktäter sind männlich." Statistisch bedeute das also eine enorme Risikoerhöhung von Männern gegenüber Frauen. "Aber daraus würde ich jetzt nicht folgern, dass man sich vor Männern grundsätzlich fürchten sollte."

Hilfe bei Suizid-Gedanken
Sollten Sie selbst von Selbsttötungsgedanken betroffen sein, suchen Sie sich bitte umgehend Hilfe. Bei der anonymen Telefonseelsorge finden Sie rund um die Uhr Ansprechpartner.

Telefonnummern der Telefonseelsorge: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222 www.telefonseelsorge.de

Telefonberatung für Kinder und Jugendliche: 116 111 - www.nummergegenkummer.de